Unzuhause


Gedanken verlieren sich in tiefschwarzer Nacht. Begleitet von einem stillen Pochen einzelner, verirrter Tropfen an meinem Fenster, schießt der Regen in feinen, durchsichtigen Linien fast waagerecht daran vorbei. Monotones Rauschen wie Stille und ein regelmäßiges Blinken der Lampen an den Tragflächen. Manchmal kommt es mir vor, als würde das Flugzeug an Höhe verlieren und absinken. Aber das kann man unmöglich wissen. Eingewickelt in eine Decke drücke ich meinen Kopf noch etwas dichter in den Fensterrahmen, spüre mein Gesicht an der sanft vibrierenden Plastikscheibe und warte. Mein Atem beschlägt das Fenster, meine Nase wird kalt. Dann wird der Regen weniger, hört schließlich auf. Tragfläche, Blinken, schwarzer Hintergrund. Um sagen zu können, ob wir abstürzen oder nicht, suche ich draußen einen Vergleichspunkt. Vielleicht steigen wir auch oder fliegen ganz gleichmäßig in diesem schwarzen Nichts. Monotones Rauschen und Stille, dann wende ich mich ab von der Nacht und blicke mich im Flugzeug um. Ich sitze alleine in meiner Reihe. Auch in den anderen Reihen keine Passagiere, auf dem Gang keine Crew. Ich löse den Anschnallgurt, stehe auf und gehe den Gang nach vorne, durch alle Abteilungen der dritten Klasse, dann der zweiten Klasse. Keine Passagiere, keine Flugbegleiter. Stille und Rauschen. Fliege ich überhaupt noch? Auch die erste Klasse ist leer. Ruhig gehe ich weiter, sollte ich Panik verspüren, merke ich nichts davon. Ich bin auch nicht verwirrt. Ich nehme es, wie es ist. Das Cockpit: Die Tür ist verschlossen. Ob die Piloten noch da sind...?

 

Erst ein Knacken, dann ein schmatzendes Geräusch. Müde öffne ich meine Augen und blicke mich um. Was war das? – Muss wohl ein Rieseninsekt gewesen sein. Guck dir mal die Windschutzscheibe an! Die Frau neben mir am Lenkrad schaltet den Scheibenwischer ein und der rötliche Matsch verteilt sich in schmierigen Streifen auf der Scheibe: Ein bisschen Wischwasser wäre auch nicht schlecht. Diese alte Karre! – Lass sie das ja nicht hören, ich lehne mich zurück. Es wird bestimmt ganz nett! Schweigen. Das Auto biegt um eine Kurve, fährt vorbei an Reihen- und Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten. Dann wird das Auto langsamer und bremst.

 

Nach der Begrüßung gehe ich nach oben in mein Zimmer, um mein Gepäck abzulegen. Das gleiche alte Haus, der gleiche alte Flur, das gleiche alte Zimmer – Treppe hoch, dann links um die Ecke. Form und Materie: alles wie früher, nur die äußere Erscheinung ist in ein frisches Weiß getaucht, mit modernen Möbeln und Teppichen. Ein neuer Hund. Der Raum bleibt gleich, nur die Zeit verändert sich. Eigentlich freue ich mich, dass sie nicht in einem muffigen, altmodischen Haus leben wie so viele ältere Leute. Häuser, die nur noch von den Erinnerungen leben. In der Vergangenheit. Häuser, in denen die Zeit stehen bleibt und nur der Raum sich verändert. Hier, in meinem Zimmer blitzt nur vereinzelt die Vergangenheit auf. Der Blick in den Garten. Die alte Zimmertür. Als ich einmal alleine war, habe ich mich mit beiden Händen an den Türgriff gehängt und voller Wucht mit einem Fuß gegen die Holztür getreten. Der Abdruck ist immer noch zu erkennen. Durch das Kinderzimmerfenster sehe ich ihn im Garten mit einem Grill hantieren. Auch der Blick auf den Garten hat sich nicht sehr verändert seit jenen Tagen. Die Bäume sind zwar etwas größer geworden und die Nachbarhäuser etwas kleiner. Doch der Rasen ist gemäht und gepflegt wie immer. Und die Büsche mit den leckeren und süßen Himbeeren – eigentlich fragte ich mich damals schon, warum ausgerechnet dieses Beet immer so wüst und trocken aussieht.

Später blitzt die Vergangenheit noch einmal auf, und zwar im Keller – hinter der Treppe, links. Da ist die Abstellkammer. Gerade als ich aus meinem Zimmer herausgehe, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, da spüre ich plötzlich ein panisches Gefühl im Magen, eine Angst ohne Inhalt und Form, nur dahinfließende Zeit. Durch meinen ganzen Körper schießt eine Anspannung, als würden sich alle Muskel plötzlich verkrampfen und ich weiß – oder besser: dunkel erinnere ich mich. Dort im Keller, unter dem Weinregal, direkt über der Fußleiste ist ein kleines Loch in der Wand, wie ein Geheimversteck, mit einem Kasten darin.

 

Kommt ihr essen – das Fleisch auf dem Grill ist jetzt fertig! Er ruft aus dem Garten, als ich unten im Keller ankomme. Kurz darauf vom oberen Ende der Kellertreppe eine lautere Frauenstimme im Vorbeigehen mit klirrendem Geschirr in der Hand: Kommt ihr essen bitte, sonst ist alles Gute weg! Kommt ihr? – noch einmal höre ich sie, dieses Mal etwas leiser aus dem Garten. Ein weiterer Panikschub steigt in mir auf und verhindert jeden klaren Gedanken: Ich darf niemanden davon wissen lassen! So tun, als hätte ich es nicht erinnert! Oder ich muss mich stellen! Ich muss es beseitigen! Das Weinregal wieder zurechtrücken! Mir wird schlecht. Sie steht ruhig neben mir und betrachtet den Inhalt. Woher kommt es? Ist es von dir? Ich kann es verschwinden lassen! Sie sagt: Es ist lange her und es ist nur noch wenig übrig. Ich bringe es durch den anderen Kellerausgang zur Mülltonne auf dem Hof. Du warst ein Kind, es ist lange her und keiner wird es mehr bemerken. Du hast es doch dort versteckt? Ich weiß es nicht, ich versuche mich zu erinnern, aber ich weiß es einfach nicht mehr! Sie sagt: Denk nach, was du gemacht hast! Ein dumpfes Gefühl in meinem Magen sagt mir: Ich war es! Alle Muskeln spannen sich an und verdrängen den letzten Rest klaren Denkens. Kommt ihr bitte essen! Mit zusammengebissenen Zähnen schreie ich im Flüsterton: Warum muss er ausgerechnet jetzt mit den Scheiß Steaks fertig werden! Sie blickt mich an: Es tut ihm bestimmt leid. Gehst du jetzt bitte essen.

 

Draußen im Garten steht ein Tisch, der reichhaltig gedeckt ist. Er nimmt stolz die saftigen Stücke Fleisch vom Grill. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und der Hund schleicht um das Grillfleisch herum. Von hier unten sehen die Himbeer-Büsche nicht so wüst aus. Nur von oben, wenn man aus dem Fenster schaut, kann man erkennen, dass hinter und zwischen den einzelnen Büschen kahle, sandige Stellen sind. Von hier aus sehen die Büsche grün und die Himbeeren saftig aus. Ich setze mich und lade mir Fleisch auf den Teller. Rötlicher Sud tritt aus ihm heraus. Ich reiße mich zusammen. Beim Aufladen fällt mir etwas auf den Boden, was ich heimlich unter dem Tisch schiebe. Der Hund schnappt es sich und schlingt es herunter. Als das Essen beginnt, sage ich, dass ich noch etwas im Keller vergessen hätte und es schnell holen gehe. Außerdem würde ich ihr bei der Gelegenheit noch einmal Bescheid sagen und sie mitbringen. Schnell laufe ich los, so als ob ich nichts von dem leckeren Essen verpassen und schnell wieder zurückzukommen wolle. Auf halbem Wege, in der Mitte der Kellertreppe, treffe ich sie. Sie nickt mir zu, es ist alles erledigt. Insgesamt wird es ein schöner Grillnachmittag.

 

Abends sitze ich in meinem Zimmer und blicke wieder aus dem Fenster. Hinter dem Garten verläuft die alte Dorfstraße seitlich am Haus vorbei. Dort spielte ich als Kind und als Jugendlicher ging ich jeden Tag zur Schule und traf meine Freunde. Und wenn es Nacht wurde gingen plötzlich die Laternen an und gaben der dunklen Straße mit einem gelblichen Farbschimmer etwas Licht. Vor dem schwarzen Hintergrund blitzten die Laternen erst einmal, zweimal auf, dann gingen sie an. Meist blinkten sie allerdings die ganze Nacht in unregelmäßigen Abständen, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie endgültig ihren Geist aufgäben. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, das man schon von weitem hören konnte. Ich liege im Bett und beobachte durch das Fenster den schwarzen Nachthimmel und das Blinken der Laternen. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos strahlen in mein Zimmer hinein und ziehen waagerechte Linien über die ganze Länge der Kinderzimmerwände. Dann geht die Tür auf und jemand, den ich im Dunkeln nicht erkennen kann, kommt herein. Glaube mir, deinem Vater tut es bestimmt leid. Denk mal nach, was du getan hast! Die Person dreht sich um und verlässt das Zimmer. Dann fällt die Tür fest ins Schloss.

 

Wieder erst ein Knacken, dann ein schmatzendes Geräusch. Ich schalte den Scheibenwischer ein und der rötliche Matsch verteilt sich wieder in schmierigen Streifen auf der Scheibe. Dann spritzt die Scheibenwischeranlage ein bisschen Wasser und der Sud wird in feinen rosa Linien von der Windschutzscheibe gewischt, immer transparenter bis schließlich der Blick durch das Fenster auf die Straße wieder frei ist. Wir fahren heim.