Fensterblick

 

Auf der anderen Seite der Dorfstrasse, keine 15 Meter entfernt, hinter einem Rasenstück, steht ein einzelnes Mehrfamilienhaus, zwei Stockwerke, gelb verputzt, rotes Spitzdach, eines der Häuser aus den Nachkriegsjahren, die man in vielen Dörfern auf dem Land findet. Sie stehen meist am Rande der Orte, beim Dorfein- oder ausgang, und bilden einen Kontrast zu den älteren Häusern und Höfen der Jahrhundertwende, die entweder gut saniert oder halb - manchmal auch komplett - zerfallen sind. Wenn man schon auf dem Land wohnt, dann wenigstens im Häuschen mit einem Garten und nicht in einer modernen, aber charakterlosen Wohnung mit flachen Decken. Aber das ist wohl nur die Sicht des Städters. Als wir am Nachmittag ankamen und aus den Autos stiegen, sahen wir eine alte Frau, die mit einem Kissen am offenen Fenster saß und uns zurief: „Ach hallo, ich habe euch zuerst gar nicht erkannt! Seit ihr schon von der Schule zurück?“ Jetzt am Abend sind alle Fenster geschlossen. Wer hier wohnt, ist vermutlich alt oder fremd und in jedem Fall arm. Ein Gewitter zieht über das Land. Regentropfen auf dem Fenster lassen das kleine Dorf draußen distanziert erscheinen. Hier gibt es vielleicht zehn Häuser und einige intakt wirkende Bauernhöfe mit großen Scheunen und Schuppen. Tagsüber habe ich ein- oder zweimal einen Traktor an unserem Ferienhaus vorbeifahren gesehen. Auf einer Koppel am Dorfausgang standen drei Pferde und zwei Fohlen. Hin und wieder hörte ich aus einiger Distanz auch einen Esel schreien. Menschen trifft man hingegen kaum, die Straßen wirken wie ausgestorben, der nächste Supermarkt befindet sich außerhalb des Dorfes. All dies im Hinterkopf wirkt das Einfamilienhaus gegenüber noch isolierter. In der Dämmerung scheinen der bewölkte Himmel und die graue Dorfstrasse ineinander überzugehen, nur das gelbe Haus ragt inmitten des flachen Landes, der Wiesen und Koppeln heraus. Die Einfahrt zum Haus von der Dorfstrasse führt zu einem gepflasterten Hof, eine Art Parkplatz neben dem Haus. Aber es stehen keine Autos dort. Auf der anderen Seite ein Holzschuppen, von der Größe könnte es auch eine Garage für ein oder zwei Autos sein. Doch hochgewachsene Grasbüschel am Schuppentor verraten, dass es eher selten benutzt und schon gar nicht von Autos befahren wird. Die Bewohner verfügen also über kein Auto. Auf dem Fenster unserer Ferienwohnung spiegelt sich die Wohnzimmerlampe hinter mir. Halte ich den Kopf in einer bestimmten Höhe und blicke hinaus durchs Fenster, sieht es aus, als würden Flammen aus dem Dach des Einfamilienhaus gegenüber lodern. In den Fenstern des Gebäudes sehe ich kleine Lichter. Die Bewohner sind also zuhause.