Die Sanduhr



„[...] Wörter, Klänge, Sprache, Menschen, Erinnerung, Gedanken, Ängste und Gefühle - Zeit - alle aufeinander bezogen ... alle aus dem Einen gemacht. [...]“

(John Coltrane über „A Love Supreme“)


Sanfte Tropfen umspielen lauwarm die nächtlichen Straßen, die wenigen Passanten auf den Bürgersteigen, Straßenlaternen, geparkte Autos. Leise klopft der Regen auf die Markisen der Bars, unter denen nur noch vereinzelt Gäste sitzen; in ihren Gläsern mischen sich die letzten Reste von Alkohol, Zitronenscheiben und halbgeschmolzenen Eiswürfeln. Dünne Fäden aus Regenwasser, ein lauwarmes Band, sichtbar-unsichtbar zwischen isolierten Klavierakkorden, die aus dem Inneren einer Bar erklingen, verbinden sich mit der Melodie eines Saxophons und gesellen sich zum rauschenden Scheppern von Hi-Hat und polternden Drums. Sie lehnen sich in ihren Korbstühlen zurück.


„Ich mag diese Abende.“

„Wann geht es bei dir los?“

„Ich bleibe noch ein paar Tage.“

„Freust du dich?“

„Es ist schön hier.“

„Ich habe den Ort extra für heute Abend ausgesucht.“

„Ich weiß.“


Sie nippen an Ihren leeren Gläsern und blicken sich in die Augen. Die Bar, soviel ist klar, ist der letzte Anlaufpunkt und (fast) alles, was es zu sagen gab an diesem Abend, ist gesagt. Sie schweigen und lassen die Zeit laufen. Da nähert sich auf dem Bürgersteig schwankend ein heruntergekommenes Paar und geht direkt vor Ihnen vorbei. Sie schubsen sich, schreien sich an, und die eine haut dem anderen mit der Faust fest auf den Rücken. Werden sie sich jetzt schlagen?


„Hey!“ Er beugt seinen Oberkörper etwas nach vorne. Sanft drückt sie ihn zurück. „Lass sie!“


Der Mann torkelt weiter, die Frau bleibt stehen und dreht sich um. Sie schaut ihnen jetzt direkt in die Augen und zeigt grinsend ihre verfaulten, schwarzen Zähne und ihr von Drogen und Leid gegerbtes Gesicht. Dann, auf einmal, fängt sie an, sich zur Musik zu bewegen, auf der Stelle zu tanzen; sie schwingt ihre Arme, wackelt mit der Hüfte, wie ein Kind, das den „Ententanz“ macht. Spürt sie die Musik? Spürt sie gerade überhaupt irgendetwas? Weiß sie, wie kaputt sie dort aussieht beim Tanzen? Heroin, die Droge der Jazzmusiker: Bill Evans, Chat Baker, Miles Davis, auch John Coltrane – aber nicht mehr bei „A Love Supreme“. Oder spürt sie auf Heroin die Musik vielleicht sogar mehr als wir, intensiver, das chaotische durcheinander der Instrumente und der Gefühle? Welches der Instrumente hat denn die Führung: Das Saxophone mit seiner verdrehten Improvisation, das unberechenbare Klavier mit seinen immer neuen Akkorden oder das treibende Schlagzeug, das alles durcheinanderwirbelt? Die Musik steigert sich in sich selbst hinein. Töne und Skalen verselbstständigen sich; was wissen wir schon vom Innenleben der Musik und anderer Menschen? Kann man Gefühle erfassen? Die Frau lächelt entrückt und wackelt vergnügt mit ihrem knochigen Hintern. Versunken in die Töne verschwindet die Welt um sie herum. Irgendwann kommt sie zurück; sie wankt fort, holt ihren Mann ein und geht mit ihm weiter die Straße entlang, so als wäre nichts geschehen. Alle Beziehungen sind wohl verschieden und es gibt Menschen wie Körner in einer Sanduhr. Die Musik beruhigt sich, der Abend geht zu Ende.


„Trinken wir noch etwas?“

„Ich habe noch unseren durchgerissenen Fünfer-Schein.“

„Sie schließen gleich die Bar.“

„Noch spielt die Musik.“

„Und ich habe die andere Hälfte des Scheins.“

„Die Musik ist sehr schön.“

„Es ist spät geworden.“


Sie umarmen sich freundschaftlich. Es beginnt der letzte Teil der Musik, zuerst nur ein donnerndes Schlagzeug, das von fern heranzurollen scheint, und eine feingesponnene Verzierung des Saxophons. Eine melancholische Linie, die sich wie ein Faden immer weiterspinnt, in sich selbst verknotet und schließlich angefeuert wird vom zischenden Scheppern des Ride-Beckens, das gleichsam den Vorhang zieht und die musikalische Bühne freigibt: Klavierakkorde werden geschlagen, willkürlich in die Musik geschmissen, um die Spannung zu steigern, hier und da der Kontrabass, wie der pochende Herzschlag des Stückes. Der Rhythmus ist gleichmäßig, aber unbestimmt, und tragend. Die Körper wiegen sich leicht hin und her, ihre Bäuche berühren sich sanft. Die Musik steigert sich und bleibt doch ganz bei sich selbst. Die Bewegungen fließen. Und mit sanften Tropfen umspielt der lauwarme Nieselregen die nächtlichen Straßen, die wenigen Passanten auf den Bürgersteigen, Straßenlaternen, geparkte Autos und zwei Tanzende.