"Catch the blue train"
(Robbie Robertson)
In der Ferne wirkt es wie die Leuchtreklame einer neuen Shisha-Bar: In der Hitze flimmerndes Licht, ein blaues Blinken, dazu eine Gruppe von Menschen, die hintereinander, voreinander, nebeneinander und ein Auto mitten auf dem Bürgersteig. Jemand rempelt mich von hinten an. Schweiß läuft mir von der Stirn. In meiner Wohnung halte ich es wegen der Hitze und des Lärms nicht mehr aus. Das Auto ist ein Rettungswagen und steht vor der Treppe runter zum Bahnsteig. Die Sanitäter in Funktionskleidung mit Trage sehen deplatziert aus mitten im Kneipenviertel, Szeneviertel, Clubviertel, Musik, eine junge Frau schreit hysterisch, dann Lachen, Bässe, Dröhnen. Hier arbeitet man nicht und wenn, dann tut man so, als würde man nicht arbeiten, sondern mitfeiern. Mir wird schwindelig von Alkohol und Zigaretten, alles verschwimmt, selbst der Rausch. Fetzen einer Lautsprecheransage dringen an mein Ohr „... Betriebsablauf ... Unfall ... Personenschaden ...“, einige der Menschen werden wütend, „Scheiße!“, winken ab, plustern die Backen, andere tippen auf ihrem Smartphone herum, setzen sich in Bewegung, die Straße entlang. Flip-Flops und Turnschuhe, Shorts, Designer-Hemden, T-Shirts mit Aufdruck, Frisuren. Von hinten werde ich angerempelt.
Ich stolpere nach vorne und treibe mit der Menge durch den Müll der Nacht, gehe unter einem engen Baugerüst hindurch, Menschenströme in zwei Richtungen, immer wieder werde ich angerempelt, „hey, du Penner!“, ein Fahrrad kommt klingelnd entgegen, versucht Fußgängern auszuweichen. Hinter dem Durchgang blendet mich wieder helles Neonlicht „Bier – Cennet-Kiosk – Zigaretten“. Aus dem Eingang stolpern junge Männer mit Flaschen in der Hand die Stufen herunter, hauen sich auf den Rücken, lachen, schubsen sich in die Nacht hinein. Der Laden riecht nach kaltem Zigarettenrauch. Hinter dem Tresen steht ein dünner schwarzhaariger Mann, elektronische Musik mit tiefen Bässen wummert aus kleinen Boxen, er bewegt sich geschmeidig im Takt, auf dem Tresen flimmert ein Minifernseher ohne Ton, um den Tresen herum Berge von Bier, dann blickt er von seinem Handy auf, dunkle Ringe unter den Augen, und nickt mir zu: „wos wielst?“, hinter ihm eine riesige Auslage an Zigaretten, Tabak und billigen Schnaps.
Wieder draußen zünde ich mir den Rest einer Zigarettenkippe an und stelle mich in einen dunklen Hauseingang. Ich nehme einen tiefen Zug, inhaliere den Rauch und schließe die Augen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und blickte mit geschlossenen Augen nach oben. Die blaue Farbe des Sommerhimmels, ich stelle mir vor, wie sie damals von Horizont bis Horizont reichte, die Sonne wärmte meine Wangen, kein Wind. Langsam glitt der Zigarettenrauch aus meinem Mund, ich blies nicht aus, sondern ließ ihn selbst seinen Weg aus dem Körper finden, aus dem Mund und den Naselöchern, wie dünner Nebel verbreitete er sich über meinem Gesicht. Wir ließen uns nebeneinander auf den Rücken ins hohe Gras fallen und lauschten der rauen Stimme von Robbie Robertson aus dem Kassettenrecorder. Die Wiese hinter dem verlassenen Schulhof während der endlosen Sommerferien. Die wuchernden Pflanzen und saftigen Blumen auf der Wiese. Die Zeit war ein opaker Block, in dem das Früher und das Später unbeweglich feststeckten, wie die Wassermoleküle in einem Eiswürfel. Alles, was war, überlagerte sich, wird gleichzeitig, alles ist bedeutsam, nichts vergeht.
Aus dem Dunkeln des Hauseingangs hinter mir höre ich ein Pfeifen. Als ich mich umdrehe, sagt sie: „Warum sieht man dich eigentlich immer bei Cennet?“ In ihren Fingern glüht der Rest einer weißen Slim-Zigarette. Sie lehnt in ihrer Jeansjacke am Türrahmen und lächelt. „Ich weiß nicht. Die Nacht hat mich wohl irgendwie hergespült... Bist du oft hier?“ – „Fast nie. Scheiß auf die Bonzen!“ Ein leichtes Zittern geht durch ihre Hand. Sie nimmt einen tiefen Zug und die Zigarette brennt bis zum Filtern ab. „War gerade im Urlaub im Süden. Sonne und Strand und so.“ Sie guckt mich herausfordernd an. Ich stelle mir das warme Sonnenlicht auf meinen Wangen vor und nicke gedankenverloren. „Ja, klar am Strand... das macht Sinn. Strand.“ Vielleicht sollte ich sie einfach stehen lassen. Jetzt. Einfach weggehen zur Wohnung der Madam. Dort gibt es Schnaps und billigen Sex, ohne Erklärungen, ohne reden zu müssen. Als ob sie Gedanken lesen könnte, tritt sie näher und flüstert: „Du musst loslassen!“ Ich fühle mich ertappt: „Nein, wirklich. Ich finde es cool... der Süden... ja, warum nicht.“ Sie kommt noch einen Schritt näher, stellt sich direkt vor mich: „Du findest es cool...“, hysterisch lacht sie auf, fast schreit sie, und zeigt dabei ihre schwarzen, verfaulten Zähne: „...probiere es mal aus, dann wirst du ganz heiß drauf!!!“ Ich bleibe allein zurück im dunklen Hauseingang. Das Leben ist wie ein Fluch und die Nacht ist ein unendlicher Rausch. Sie nehmen einen gefangen und lassen erst los, wenn sie sich dazu entscheiden. Auf der Brücke über den Bahn-Gleisen bleibe ich stehen und beobachte den wiederaufgenommenen Zugverkehr unter mir. Ich könnte jetzt über das Geländer klettern, einfach loslassen, springen, auf einem Waggon landen und irgendwohin mitfahren. Von hier aus fahren alle Züge nach Süden.