Vom Boden her kam staubige Tageshitze. Und seine Gedanken waren etwas Weiches geworden, etwas Zerbrechliches, Graues, etwas dass er sehr vorsichtig, in seinem Kopf balancieren musste. Oder etwas, das im Innern eines Helms kondensierte, salzige, trübe Flüssigkeit, ein langsam ansteigender Pegel, der ihm zuerst den Atem, dann die Sicht nahm. Er bewegte sich jetzt schon einige Zeit entlang der Buchenhecken, war an Haltestellen, an Geschäften vorbei gekommen, hatte in den Läden und Lokalen den beginnenden Tag in schwefelgelbem, klebrigem Neon, schrillen, magnesiumhellen Spotlights, sozusagen von innen her, kommen sehen. Ein Wahnsinn, dachte er, wie schnell jetzt überall das Licht, überall, durchbricht! Und auch die wabernde, überschwappende, die scheppernde Sonne! Geilheit und Grellheit, die den noch tief tintenfarbenen Himmel auszubleichen, aufzufressen begann. Ein irgendwie schimmliger, oxidierter, ein löchriger Himmel wuchs weit über ihm. Eine Kuppel aus schartigem Glas. Er ließ sich Zeit, mit dem Gehen, wartete auf den Durst, der natürlich jetzt kam, zusammen mit dem Geschmack im Mund; mit dem Weg sowieso, zumal er auch gar nicht wusste, momentan auch nicht wissen wollte, wie weit die Strecke noch sein konnte, entlang der Hecke, durch die Straßen, an den Häusern vorbei. Und es war ihm auch egal, was in diesem dünnen beißenden, heißen Nebel der um ihn herum war, jetzt und in diesem und den folgenden Momenten mit ihm geschah. Wie ein Notschalter, ein Ventil, das sich in ihm geöffnet hatte, eine Klappe, die schartiges Geröll ausgeworfen hatte, Ballast, der ihn jetzt nicht mehr bremsen konnte, Erwägungen, die endlich zu einem unentschiedenen Ende gekommen waren. Auch wohl, weil die Nacht mit einer so brutalen Geschwindigkeit an ihm vorbeigerauscht war, dass er glaubte, den Fahrtwind der vergangenen Stunden, der vorüber rasenden Bilder noch zu spüren, genau und gerade darum ließ er sich jetzt viel Zeit, strich mit der Hand durch die Hecke, setzte sich hin und wieder in eine der Bushaltestelle, rauchte, beobachtete. Er sah, wie das fahlgelbe Licht der Straßenlaternen langsam verschwand. Er sah auch, dass das aufschwebende Morgenlicht jetzt tatsächlich eine Übereinstimmung herzustellen begann. Zwischen dem blassblauen Glühen des Himmels und dem brennenden Boden hier vor ihm. Auf den Betonplatten des Gehwegs lagen Kippen, Essensreste, Papier. Asteroidentrümmer, die um ihn zu kreisen begannen, wenn er hinsah. Kleinigkeiten, Reste und Spuren des Tages die jetzt, mit dem wieder beginnenden Kreislauf um die Sonne selbst zu leuchten anfingen. Woher kam das Strahlen, die Strahlung im Innern? War das seine Kraft, seine Schwerkraft, die ein anderes Licht anzog, von weiter her? Eine sanfte Übelkeit kam in ihm hoch; er lehnte sich zurück, wartete ab. Der Schwindel, die Rotation um die eigene Achse, verlangsamten sich. Den dumpfen Geschmack der Zigarette wäre er gern losgeworden, er hätte ihn gern ausgelöscht, überstrahlt mit einer Sprite vielleicht, oder einem Kaugummi. Was ihm jetzt blieb: Eine neue Zigarette. Und dann, mit den sich zerstreuenden Rauchteilchen, die sich wie in Spiralnebel vor ihm ausdünnten oder verdichteten, in den Gedanken, dem Zeitmaß der Zigarette, sprengte plötzlich ein neuer Fokus auf, ein Schlag auf die Oberfläche: Der Ausweis des anderen. Der andere, dessen Ausweis er seit den letzten Stunden mit sich herumgetragen hatte, er die Supernova, die weinende Wut, der verbrennende Stern im Dunkel des Betons! Der andere hatte triumphierend und höhnisch etwas an sich gezogen, etwas das aber ihm gehörte! Der andere hatte etwas nach Außen gekehrt, was besser unsichtbar geblieben wäre! Darum war er jetzt hier, hatte die Uhr zurückgestellt, das Zündschloss. Darum war er nicht in die Wohnung zurückgekehrt. Darum hatte er nicht getan, worum sie so am Telefon gebettelt hatte, am Ende. So sehr hatte sie ihn angespuckt mit brennenden Wortschwärmen, dass dann schließlich etwas ihn ihm zersprungen war, dass alles in einem weißen, schaumigen Schrei geendet war. Dabei hatte er den Apparat so dicht vor den Mund gehalten, dass das Glas beschlagen war. Er hatte so sehr geschrien, so sehr, dass sie schließlich gar nicht mehr dran gegangen war. Aber, zu welcher Uhrzeit eigentlich? Wann überhaupt?
Ob es das geben kann, dachte er, einen Fahrtwind der Nacht, den die zu schnell laufende, fliehende Zeit, die vorüber stürmenden Stunden verursachen? Einen Sturm, den dieser tonnenschwere Nachtzug voll mit glühender Euphorie gestern, und heute, in ihm ausgelöst hatte. Angetrieben von einem irren Feuer, von einem verrückten Heizer angeheizt, immer wieder, Flasche für Flasche, mit dem Brennstoff und von ihm selbst, immer wieder neu entzündet. Und zum Schluss schien es, als hab er selbst gebrannt, als sähe er die Nacht durch einen Mantel aus Feuer, durch Sonnenstürme. Und jetzt nur die gleichförmige, morgendliche Hitze. Und jetzt eine Sprite, eine Fanta, eine verdammte Cola! Neben dem Ausweis war aber nichts weiter in seinen Taschen. Sein Handy war da, 5 Prozent, sein Portemonnaie, leer, da war das Tütchen, leer, ebenfalls, bis auf ein paar Krümel. Zigaretten, Feuerzeug, beinahe leer, die Schlüssel – fehlten. Gedanke: Kann nicht sein. Kann gar nicht sein. Sich zusammennehmen, alles absuchen, immer in Erwartung des befreienden, metallischen Klimperns, sich-selbst-Abtasten, vorn, hinten, oben, unten. Nichts! Da war nichts. Er stand auf, er sprang auf der Stelle, wieder nichts. Er wurde wütend, biss die Zähne aufeinander. Schweiß, Dunst, klebrige Säure. Jetzt musste er zu ihr zurück, klingeln, warten. Möglich, er konnte das ganze mit einer beschwichtigenden Nachricht vorbereiten. Beziehungsweise: Er konnte eine Erklärung finden, für was auch immer vor ein paar Stunden geschehen war. Vielleicht würde er an etwas Weiches, weniger widerständiges, Wohlwollendes in ihrer Auffassung der Ereignisse appellieren können. Vielleicht würde es ihm gelingen, nach und nach aus den Trümmern der all-dunklen Nacht Beweisstücke zutage zu fördern, Proben, die seine doch wohl geringe Schuld glaubhaft machen konnten. Es müsste eine letzte, vorsichtig und rücksichtsvoll formulierte Nachricht sein. Eine, die ihn an den Frühstückstisch, vielleicht sogar in ihr Bett durchließ, wenn all das hier erledigt war; wenn, oder falls, er das hier hinter sich gebracht hatte. Aber das spielte auch keine Rolle mehr, das waren Gedanken, die sich jetzt in einem Vakuum verflüchtigten, Spekulationen über eine Zukunft, die für ihn noch nicht relevant war. In der linken Hand spürte er noch immer das harte Plastik des Ausweises. Immer noch, als unmittelbar vor ihm ein Bus hielt, immer noch, als sich die Türen lautlos öffneten, der Fahrer zu ihm herunterblickte. Interessant, ein sogenannter auffordernder Blick, dachte er. Eine Aufforderung. Zu was? Der schwere Motor lief, durch die Türen floss lauwarme Luft, krochen Schweiß und Abgas, neblig, klebrig zu ihm hin. Und dann glitten Menschen heraus, langsam, einzeln, einander folgend. Der Fahrer blickt ihn noch immer stumm an. Eine lange Prozession, ein Schweigemarsch von Heiligen, die für den Tag lebten, die in der Nacht, in seiner Nacht, in ihren Wohnungen, ihren Pressspanbetten gelegen und sich auf diesen Morgen, dieses frühe Aufstehen, vorbereitet, möglicherweise gelitten, gestöhnt, geflucht, hatten. Die jetzt aber zur Stelle waren. Die, wie er im Kontrast zu seinem eigenen Zustand feststellen musste, allem Anschein nach aber geschlafen hatten. Er blickte nach unten, er sah die Flasche. Er warf sie gegen das hintere Fenster. Wie berstendes Eis zersprang die Scheibe, sie explodierte. Ein Hagel kristallener Splitter ergoss sich über den Gehweg. Er wich zurück, langsam, und sah noch ihre Gesichter. In der grauen Öffnung, ölig, müde, ohne Reaktion, Sekunden vor dem Schrecken. Aber die ersten Rufe, Schreie verfolgten ihn schon, als er sich rückwärts durch die Hecke fallen ließ, über einen Spielplatz flog, fiel, weiterlief. Sein rasender Atem begann zu schmerzen, jeder Schritt und Herzschlag schlug hoch bis in seinen Kopf hinein, es dröhnte, donnerte. Bis das Licht erlosch.
Er fand das Glück in einer überwältigenden Ordnung. Er fand es zwischen weltraumtauglichen Getränkedosen, bewusstseinserweiternden Spanplatten, glühenden Spezialklebern, glitzernd verpackter Insektennahrung. Das Objekt hatte sich seinem Blick nicht entzogen, obwohl es leicht zu übersehen worden wäre. Denn das Regal dehnte sich nach links und rechts in den Raum, dessen Ende nicht zu erkennen war, aus. Es wuchs in die unbestimmbare Höhe einer Kathedrale empor. In seiner Hand lag es wie eine palindromische Entwicklung des Raumes selbst, den es nach allen Seiten umgab, ein amorphes, nicht glattes, aber zufriedenstellend gleichförmiges Beispiel höchster, wie eine Stimme behauptete, Vollendung gegenwärtiger Verpackungskunst. Das Objekt war verhüllt, neblig. Trotzdem wies die Ummantelung Öffnungen auf. Und so ergab es sich also, dass das Objekt eher ein löchriger Käfig, denn eine nach allen Seiten schützende Barriere umgab. Und es kam ihm der Gedanke, den er noch keine zwei Augenblicke vorher für möglich, für sich selbst überhaupt annehmbar gehalten hatte: Warum das Ding nicht einfach mitnehmen? Er blickte den Gang nach rechts und links herunter, schaute nach oben, konnte keine der mattschwarzen Augen erkennen in denen, das war klar, Ultraschallemitter untergebracht waren. Besser noch – aus der Decke und direkt über ihm ragte ein graues Kabelende heraus, schlängelte sich durch ein Loch und endete nach nicht einmal zwanzig Zentimetern in einem Büschel aus Filamenten ohne Verbindung, ohne Funktion. Günstiger, das war ihm jetzt klar, konnte die Gelegenheit nicht sein. Das Objekt glitt wie von selbst zwischen den Fingern durch, von einer Hand in die andere. Jetzt traute er sich schon nicht mehr hinzusehen, aber er spürte die plastische Oberfläche, die dem Druck seiner Finger etwas nachgab, ein gummiartiges, stumpfes Pergament war es, das das Innere umschloss.