Wenn ich mich herunterbeuge und meine Wange ganz dicht ans Fenster halte, spüre ich einen feinen Luftzug unterhalb des alten Holzrahmens. Ich lasse die kalte Luft über mein Gesicht streichen und atme tief durch. Jetzt im Winter bildet sich hier hinter der Gardine Feuchtigkeit und Kondenswasser setzt sich ab, das ich morgens mit einem Tuch abwische. Gegen den Schimmel komme ich aber nicht an. Man kann versuchen, ihn zu beseitigen. Panisch habe ich mir Schimmelspray, Anti-Schimmellack und Desinfektionsmittel besorgt. Doch es half alles nichts, er kommt immer wieder. Besonders der Stachybotrys ist gefährlich: Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Augenschmerzen, Nasenbluten, Haarausfall, ja sogar ein rätselhaftes Lungenbluten wurde nach ihm benannt: die Stachybotryose. Der Stachybotrys ist ein geduldiger Gast. Als dunkler Schatten wartet er im Verborgenen. Dann, zuerst als feine Linie, später als schwarzes Tapetenmuster sendet er einen Gruß, um sich sofort zu verkriechen, in die Ecken, hinter Schränke, in Ritzen zwischen den Raufasertapeten, hinter Fußleisten, auch im Kleiderschrank und sogar in meiner Tweedjacke habe ich schon Staub vom Schimmel entdeckt. Stehe ich nachts aus dem Bett auf und gehe die paar Schritte hinüber zur Toilette, befürchte ich, dass er sich vielleicht schon unter mir befindet, auf der Unterseite des Teppichbodens, auf den ich mit meinen Strumpfsocken laufe. Oder er lauert über mir, an der Decke, wie eine Spinne, bereit zum Absprung. Streife ich dann im Dunkeln einen Stapel Kartons mit Büchern oder Schallplatten wische ich mir unwillkürlich übers Hemd, um ihn zu beseitigen. Dabei weiß ich es besser: seine Sporen fliegen wie kleine Pollen durch die Luft, vorbei an den abgebrannten Kerzenstummeln, vollgeschrieben Notizzetteln, Rechnungen und ungeöffneten Briefen, schmutzigen Aschenbechern, getragenen Kleidungsstücken, leeren Joghurtbechern, alten Zeitungen. Überall ist Schimmel. Und er verteilt sich mit jedem meiner Schritte und jeder Bewegung weiter, sitzt in meinen Haaren, auf meiner Kopfhaut, sogar in meinen Kopf ist er schon eingedrungen und hat meine Gedanken befallen. Denke ich an Essen, so denke ich an Schimmel. Denke ich an Tageslicht, so denke ich an Schimmel. Denke ich an Musik, so denke ich an Schimmel. Er ist immer und überall und wird niemals nicht sein, älter als die Menschheit, jünger als das Jüngste Gericht. Kein Kissen, das nicht durch Schimmel kontaminiert werden könnte, kein Obst, ohne baldigen Schimmelbefall, keine Bücher, ohne feuchte Schimmelränder, die sich über die Seiten ausbreiten und den Text unleserlich machen. In tausend Jahren wird vielleicht kein denkendes Wesen mehr existieren, aber der Schimmel bleibt. Dieses Wuchern ergreift Besitz von einfach allem. Das ist der Grund, warum ich mich ablenken muss. Warum ich aus dem Fenster schaue, anstatt zu arbeiten. Ich brauche einen gesunden Verstand und einen klaren Blick, denn meine Arbeit ist geistiger Natur: Ich strukturiere den Raum.
Aber noch etwas macht mir Angst: Nur die Ordnung der Dinge ist beständig. Ein Metallrohr im Karton bleibt ein Metallrohr im Karton – alle Dinge haben ihren festen Ort. Aber ob das Rohr Teil eines Fahrradrahmens oder eine Garderobenstange ist, das hängt von mehr ab und mahnt mich zur Vorsicht, mein Leben nicht unnötig aufs Spiel zu setzen. Schließlich ist mein Zimmer voll von diesen Zusammenhängen. Jeden Meter Luft, den die Gegenstände mir lassen, fülle ich damit. Dicht an dicht, unsichtbar und doch existent, ziehe ich feine Linien durch das ganze Zimmer, sie bilden Verweise von einem Ding auf das andere, verbinden scheinbar Unzusammenhängendes, geben den Dingen Funktion und Bedeutung. Wenn ich am Schreibtisch sitze und Pause mache von dieser Arbeit, male ich mir oft aus, was wäre, wenn ich nicht mehr wäre. Bedeutet mein Ende nicht unweigerlich auch das Ende dieser Welt? Ein Gedanke, der mich quält. In Panik um mein Lebenswerk achte ich auf jeden Schritt, denn ich mache, jede Bewegung, ja, jeder Gedanke birgt Gefahren und ich arbeite noch konzentrierter, bleibe streng zu mir, dulde keine Nachlässigkeit, selbst die Zigarettenpausen reduziere ich auf das Nötigste, oder versage sie mir ganz, in der Hoffnung diese Strafe an mir selbst möge das Schicksal besänftigen. Aber ich bin auch schwach. Und hin und wieder, ganz kurz, erlaube ich mir den Gedanken, alles verhielte sich genau andersherum, und die die Welt wäre nicht erst von mir erschaffen, sondern gäbe mir ein Versprechen für die Ewigkeit! Ich weiß, dass ich mich damit selbst belüge, doch die jahrelange Arbeit macht mich mürbe und verleitet mich zu Träumereien. Ich gelobe mir moralische Besserung, zwinge mich zur Ernsthaftigkeit und arbeite doppelt hart, um meine Sorglosigkeit wiedergutzumachen. Umso müder falle ich nach der getanen Arbeit in einen unendlich tiefen Schlaf und finde ich mich ich einem leeren schwarzen Raum wieder.
Stille. Kein oben und unten, kein links und rechts. Nur ein chaotisches Gewirr aus Bäumen und Pflanzen. Ich folge einem schmalen Pfad hinein ins Dickicht. Dicht an dicht ragen die kugelförmigen Kronen aus roten Blättern in die Höhe und ziehen mich immer tiefer heinen in diesen bedrohlichen Märchenwald. Kräftige Baumwurzeln erschweren mir den Weg und ich stoße mir den Kopf an tiefhängenden Ästen. Doch schimmernde Partikel, die wie farbige Schneeflocken in der schwülen Nachtwärme schweben, entschädigen mich mit einem Kaleidoskop aus Farben und Formen in der Dunkelheit. Und während ich versuche, weiter voranzukommen und mir mühsam den Weg freikämpfe, verschließen die Bäume hinter mir den Rückweg. Sie strecken ihre Zweige in alle Richtungen, verknoteten sich zu einem undurchdringlichen Gestrüpp und füllen nach und nach den Raum um mich herum vollständig aus, bis nur noch der Wald und ich übrig sind. Tief im Unterholz entdecke ich eine überwucherte Stadt, erst nur ein Kirchenturm, dann – bei genauerem Hinsehen – auch die Dächer kleinerer Häuser, auch eine Stadtmauer kann ich ausmachen. Ich gehe näher heran und finde mich mitten auf einem Marktplatz wieder, gesäumt von Ladengeschäften mit ausgeblichen Schildern, die ihre Waren anpreisen: Fahrräder, Elektronik, Bücher. In alle vier Himmelrichtungen führen von hier Straßen symmetrisch durch die Stadt.
Ich folge einer Straße und spüre den kühlen Wind, der durch die Häuserschluchten zieht. Beim Gehen blicke ich durch die Fenster von Wohnhäusern, Arztpraxen und Geschäften. Ich sehe Küchen mit gedeckten Frühstückstischen – Brot, Marmelade, frische Säfte – und Wohnzimmer mit Kinderspielzeug, aufgeschlagenen Zeitschriften und Fernsehern. In einem Friseurladen steht die Eingangstür offen. Ich gehe hinein, setze ich mich auf einen Friseurstuhl und betrachte mich im Spiegel. Über mir die Haube eines Haartrockners, rings herum Waschbecken mit Shampooflaschen und Handtüchern sowie ein Empfangstresen mit Stiften, Notizzetteln und einer Kasse. Plötzlich bewegt sich etwas, unter mir. Erschrocken springe ich vom Stuhl auf, doch alles bleibt still. Auf dem Boden entdecke ich eine schleimige Spur, wie von einer großen Nacktschnecke. Ich verlasse den Laden. Irgendwo finde ich auf dem Bürgersteig einen Kinderhandschuh. Ich hebe ihn auf. Die Unterseite ist überzogen mit schmierigen Flecken und verströmt einen modrigen Geruch. Über alles in der Stadt scheint ein dunkler, modriger Schatten zu liegen. Und auch ich spüre, wie er mich verschlingen will, der Wald, wie die dunklen Schatten an meinem Körper hervorwachsen – feine dunkle Streifen an der Haut zwischen den Fingern, hinter den Ohren, an der Nasenfalte, dann im ganzen Gesicht, auf den Armen, den Beinen, überall sprießen kleine schwarze Halme mit roten Kugeln an der Spitze und aus meinem Mund und meinen Nasenlöchern quellen moosartige Stauden hervor.