Unbeschwert durch die Theorie und Praxis des Höhlentauchens, schloss K. B. seine Augen und atmete tief durch – 4 Sekunden ein, 6 Sekunden aus. Dabei brummte er einen Ton tief aus der Mitte seines Körpers, der einem umgedrehten „e“ glich. Das helle Sonnenlicht, das den Raum flutete und all die Gegenstände um ihn herum in klare Farben tauchte, ließ er nun fahren und schon bald fand er, wonach er suchte. Eine Art Viereck, das er zu passieren hatte, ein schwarzes Nichts, das, etwas versteckt, unwirtlich im Raum schwebte, ja, den Raum zu zerschneiden schien. Er glitt hinein und eine große dunkle Höhle breitete sich vor ihm aus. Einzelne Strahlen des Tageslichts drangen hier und da noch von außen in die Dunkelheit  und vermischten sich mit dem Leuchten einer fremdartig schimmernden Substanz, die aus kleinen Spalten und Fugen an den Seiten des Raumes quoll. Ohne das logische Gefüge von oben und unten wirkte seine Umgebung strukturlos. Anstelle von Boden, Wänden und Decke begrenzte raues Gestein den Raum. Er musste aufpassen, sich nicht den Kopf an den spitzen Kanten, die zwischen den Steinen hervorragten, aufzuschlagen. Kurz wurde ihm schwindelig, bevor es ihm nach und nach gelang, sich neu zu orientieren. Fasziniert und befremdet zugleich betrachtete K. B. die unbekannten Zusammenhänge und gewann mehr und mehr Selbstvertrauen. Wie ein Weltraum-Astronaut wäre er sich wohl vorgekommen. Er blickte sich um. Da waren seine Bücher, deren Inhalte aber in den Wortabständen kondensierten, das Portrait an der Wand zeigte etwas, das nicht mehr mit sich übereinstimmte, und er hörte die Ecken seines Zimmers flüstern im sanften Tonfall seiner Mutter. Der Abgleich mit den Dingen im lichtdurchfluteten Arbeitszimmer aber wollte nicht mehr so recht gelingen. In zähflüssigen Bahnen wurde eine schimmernde Substanz in die Höhle hineingesogen und wies ihm damit den Weg tiefer in das unbekannte Labyrinth. Nach einer Weile entdeckte er ein weiteres viereckiges Loch und noch eins und noch eins. In jeder der sechs Seiten des Raumes konnte er eines ausfindig machen, vollkommen gleichmäßig platziert, als wäre er in der Mitte eines Würfels, glich eines dem anderen. Also entschied er sich für irgendeins, folgte der Spur der schimmernden Substanz in seine Richtung und schlüpfte hinein. Dort erwartete ihn ein weiterer Raum, ähnlich groß wie der vorherige, ebenfalls mit sechs Öffnungen an den Seiten. Er ließ sich treiben, nahm Eingang in ein weiteres Loch und noch ein weiteres. Und mit jedem Schritt tiefer in die Höhle, wurde der Rückweg durch dieses Labyrinth unwahrscheinlicher. In einem Raum kamen ihm Gedankenblasen entgegen, die aus allen Richtungen auf- oder abstiegen, in der Mitte des Raumes aufeinanderstießen, sich vereinten und dabei einen Strudel verursachten, der ihn herumwirbelte, auf den Kopf drehte und immer wieder herumriss, während der ebenförmige, quadratische Raum, scheinbar unberührt seine Gestalt behielt oder genauer: sich mitdrehte. Schließlich spürte er einen starken Sog, der ihn von der Mitte eines Raumes aus anzog. Eine innere Unruhe durchfuhr seinen Körper. Wie ein Handschuh, dessen Inneres nach außen gestülpt wird, wurde er invertiert oder besser gesagt: eins mit dem Raum seines Arbeitszimmers, dem hellen Sonnenlicht auf den Büchern, dem Leuchten des Displays seines Laptops und unbeschwert durch die Theorie und Praxis des Höhlentauchens beobachtete er interessiert, wie seine Hände leicht gekrümmt über dem aufgeklappten Rechner lagen, die Finger sich wie Spinnenbeine auf den schwarzen Tasten bewegten, scheinbar automatisch und in Windeseile, so dass er kaum folgen konnte, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz formten, seine Argumente abwägten, ausformulierten, seine Einsichten und Ansichten in wohlgeformte Sätze gossen. Er war überrascht, dass seine ungeordneten Gedanken sich überhaupt in lineare Zeilen transformieren ließen. Ja, je mehr er über den Text nachdachte, den Text nach-dachte, den seine Finger gerade schrieben, desto deutlicher wurde ihm, dass es sich nur um eine Möglichkeit handelte, seine Gedankenzu manifestieren, nur eine zufällige Variante der Anordnungen von Ideen.


Solange, wie K. B. sich zurückerinnern konnte, reiste er gern. Er war schon in vielen Ländern gewesen und hatte Land und Leute kennengelernt, war durch Städte und Dörfer geschlendert, hatte sich Bauwerke berühmter Architekten angesehen und die Erhabenheit von Natur und Landschaft genossen. Je mehr er von der Welt sah und sich einprägte, so bildete er sich ein, desto mehr Welt würde für ihn existieren und desto lebendiger wäre er. Mindestens ebenso wichtig wie die Erlebnisse selbst waren ihm daher die Erinnerungen an die Erlebnisse, die er sich sorgsam notierte. Viele tausend Zeilen schon auf die Rückseiten bunter Ansichtskarten, die er an den Orten seiner Reisen erstand. Und da er ja viel herumkam, nannte er eine große Sammlung von Ansichtskarten mittlerweile sein Eigen. Der Eifelturm in Paris, das Opernhaus in Sydney, die Cheops-Pyramide in Gizeh und die chinesische Mauer – stets blieb ihm die Erinnerung aus Bild versehen mit Gedanken aus Text. Es ärgerte ihn allerdings, dass das wilde Rauschen am Meer von Gibraltar, die magischen Gerüche am Markt von Marrakesch und die sanften Berührungen des Windes hoch oben in den Bergen der Tatra nur in seinem Kopf verblieben und nicht als Postkarte existierten. Wie gern hätte er doch seine Welt auch in dieser Hinsicht vervollständigt. Später, als er älter wurde und nicht mehr so viel reisen mochte, entdeckte er nicht weit von seiner Wohnung entfernt einen Buchladen, ein Antiquariat, in dem es neben alten Büchern, Postern und sonstigem Allerlei auch einen großen Bastkorb voll mit Ansichtskarten gab. „Wenn Menschen sterben und Wohnungen aufgelöst werden, übernehmen wir alles aus Papier“, erklärte der Ladenbesitzer. „Bücher, Bilder, Fotos und auch Ansichtskarten. Die Gestorbenen haben die Ansichtskarten von den Absendern erhalten und nun wandern sie weiter an die nächsten Besitzer.“ Mit einem Achselzucken ging er zurück an seinen Schreibtisch, wo er in seine Arbeit versunken Titel, Preise sowie Daten von Ankauf und Verkauf seiner Buchwaren in einen Laptop tippte. K. B. stöberte in dem Korb und griff willkürlich einige Exemplare heraus. Karten, teilweise in Farbe, teilweise in schwarz-weiß, viele schon vom Alter vergilbt und fast alle vollgeschrieben in schönster altmodischer Handschrift oder krakelig und knapp. Er erkannte einige Orte von seinen eigenen Reisen und verglich sie mit seinen Erinnerungen. Jeder Ort auf der Welt scheint über eine Handvoll Perspektiven zu verfügen, dachte er. Ansichten des Ortes, mit denen er eindeutig erkannt wird. Wie archetypische Abbilder des Ortes tragen diese Perspektiven alle individuellen Erlebnisse in sich, die ein Ort in Raum und Zeit konstituieren. Sei es der besondere Blick vom höchsten Punkt des Berges herunter auf den Hafen - ein Blick, den jeder kennt, der schon einmal dort war. Oder sei es das Erhabene im Blick hinauf zur Spitze eines berühmten Gebäudes, das es unverwechselbar macht und es mit seinem Standort für immer verknüpft. Doch: Sind es wirklich archetypische Abbilder, fragte er sich, oder habe ich bloß die Postkarten schon zu oft gesehen? Er entschied sich, den ganzen Korb mit allen Postkarten darin zu erwerben, und trug ihn zu sich nach Hause. Lange saß er in seiner Wohnung und ließ die Karten auf sich wirken. Er sah Bilder von touristischen Attraktionen, schön in Szene gesetzt bei hellem Sonnenlicht, dazu Texte wie: „Liebe Grüße aus dem Süden, das Wetter ist hervorragend und der Strand wie im Paradies. Gerne würden wir noch länger bleiben, aber wir freuen uns auch schon auf euch. Eure xyz“, oder: „Ja mei, der Berg ruft! Liebe Kinder, wir fühlen uns wie Louis Trenker und sind schon viel in den Bergen gewandert. Ach, wie schön wäre es hier mit euch zusammen. Viele Grüße an die Enkelkinder und hoffentlich bis bald. Tausend Grüße, xyz“, oder auch: „Meine Liebste x, ich kann es kaum erwarten, dich wiederzutreffen und deine Lippen zu spüren. Wie können wir die Zeit getrennt nur ertragen...“. Jeder Text erzählte eine kurze Geschichte von irgendeinem Ort in der Welt, den irgendwelche Menschen besuchten. Nichts an diesen Orten war ihm mehr verborgen, fast pornografisch, so kam es ihm vor, gaben sie ihre Geheimnisse preis. Trotzdem kamen sie ihm alle seltsam bekannt vor. Eine Karte nach der anderen betrachtete er konzentriert und las sie sorgsam durch. Mit der Zeit fiel ihm auf, dass nicht nur Bild und Text jeweils eine Einheit bildeten. Überrascht stellte er fest, dass auch die verschiedenen Karten untereinander sich immer ähnlicher wurden. Waren es nur seine altersmüden Augen oder verschmolzen die Bilder tatsächlich zu einem Ganzen?