Ganz leise. Fürchterlich leise. Der Ruf eines weit entfernten Vogels. Und immer wieder: Der Name. Sein Name. Oder Teile davon. Der Name. Eine Folge von zwei gleichlautenden, druckvollen Konsonanten, getrennt durch zwei helle, eher hohe Vokale. Aufab, aufab. Oder: Helldunkel, helldunkel. Er schließt das Fenster. Er denkt: Hier bin nur ich, zusammen mit meinem Namen. Er geht dann zur Garderobe, er nimmt dann die Jacke, dann den Rucksack. Er schließt dann die Tür hinter sich ab. In jedem Waschsalon, denkt er beim Herausgehen, stehen zwölf Maschinen. Zur Firma gehören in dieser Stadt sieben Salons. Diese Stadt, das ist sein Gebiet. Damit auch insgesamt vierundachtzig Waschmaschinen des Typs Wagner WM 230 unter seiner Kontrolle, seiner Verantwortung. Und er kennt den Zustand jedes Gerätes, zu jeder Zeit. Blockierte Schmutzwasserfilter, ein sich anbahnender Lagerschaden, ein bevorstehender Motordefekt – für ihn ist das Blech der Edelstahlkästen durchsichtig wie das Glas eines Aquariums. Er könnte er es sich einfach machen. Er könnte die Daten jeder Wagner über das Netz abfragen. Aber es erreicht nicht jeden Winkel, jede Wagner-Maschine. Ein genaues Bild bekommt er nur vor Ort. Dann legt er sein rechtes Ohr an das Blech unterhalb des Waschmittel-Schubfachs. Er dreht den Wahlschalter, erst in die eine, dann, langsam, in die andere Richtung. Die Stimme der Maschine, wenn man so will, denkt er und schließt die Augen. Magnetschalter und Relais, das heulende Anlaufen des Schleuder-Motors, das Kratzen und Knirschen und Wischen. Wie eine Tier. Und dann, oft, unerklärlich, plötzlich: Die Stimme des Vaters. Damit die Erinnerung an Autofahrten über Land, an späten Sommernachmittagen. Wenn die Luft golden ist vom Staub der Mähdrescher und dem Licht. Der Vater. Und er. Zu den Bauernhöfen, den Pferdehöfen. Zu den Hundebesitzern, zu den Katzenfreunden. Aber es ist vorbei, denkt er. Der Vater, die Stimme des Vaters. Die Scham. Der Vater hatte zugefasst, gerichtet. Seine gebräunten Arme. Sein Umgang mit den Bauern. Wie er ihre Sprache sprechen konnte, ihre kargen Sätze imitieren, ihre ruppige, eintönige Zwecksprache. Die nicht geeignet war für die Spalten und Risse einer zwiespältigen Welt. Auch, wie er überhaupt mit ihnen umgegangen war. Der, denkt er, stehen geblieben war, gegen jeden Widerstand. Gegen jeden Widerstand, aber auch gegen jede Vernunft. Der, so lange er sich erinnern konnte, nie den vollen Betrag für eine Behandlung, ein Medikament verlangte. Der sich dann, später im Auto, immer genau darüber beklagt hatte. Um beim nächsten Mal, auf dem nächsten Hof, dem nächsten Bauern, wieder einen Nachlass zu geben. Der, auf die Bauernfrage nach dem Preis, eine bedeutende Pause ließ, die Lippen rundete, den Kopf wiegte. Um dann einen natürlich viel zu geringen, viel zu glatten Betrag zu nennen. Auch darum war er beliebt gewesen bei den Bauern der Gegend. Auch bei den Hundehaltern, den Katzenfreunden. Natürlich auch bei den Pferdehaltern, die oft nicht einmal die Rechnungen für die ohnehin schon geringen Beträge zu zahlen bereit waren. Pferdehalter, das hatte sein Vater ihm oft gesagt; sind, was das Bezahlen angeht, die Allerschlimmsten. Pferdehalter zahlen so gut wie nie den vollen Preis. Zahlen, wenn überhaupt, nur einen geringen Teilbetrag des ohnehin schon verringerten Betrages. Und der Vater hatte ihm einmal den Holzkasten mit den Rechnungen gezeigt, die er in den letzten Monaten geschrieben und gestellt hatte. Und von diesem Stapel im Holzkasten trennte er etwa die Hälfte ab, steckte seinen Zeigefinger in die Mitte des Stapels und hielt den Daumen an das Ende des Stapels. Und er hob diese Hälfte ein Stück heraus, so dass er sehen konnte, so dass er schätzen konnte, um wie viele Rechnungen es sich etwa dabei handeln könnte. Und er sagte, nein, er sprach, nachdem er schwer ein und ausgeatmet hatte, dass dieser Stapel, diese Rechnungen, Zahlungserinnerungen, Mahnungen; erste, zweite Mahnungen, dass er diese Papiere eigentlich auch gleich in den Papierkorb unter dem Schreibtisch werfen könne. Der aber vor allem beliebt war bei seinen Patienten, weil er ein guter Veterinär, ein guter Arzt, war. Der die Leute verstehen konnte, der seine Arbeit verstand, der etwas konnte, der gebraucht wurde. Und weil er zu jeder Tages- und Nachtzeit, „zu jeder Tages- und Nachtzeit“, betonte der Vater, auch an Feiertagen und auch an Wochenenden, kam und selbstverständlich half. Was dagegen war seine, bei Allem Optimismus, unsichere Position? Er, die technische Wartungskraft, zuständig für den runden Lauf, das akkurate Appumpen, den verlässlichen Betrieb von vierundachtzug Waschautomaten der „GreenWash GmbH“? Es ist offensichtlich, denkt er, Man muss es nur einmal so aussprechen, vor sich selbst: Kein Ziel, keine Bestimmung, keine Lebensleidenschaft. Eine Position, in die man unwillkürlich hinein, herein rutscht, schlittert. Um dann, in dieser Talsenke und als Mitarbeiter letztlich genauso austauschbar zu sein wie ein defektes Trommellager oder eine verschlissene Wasserpumpe. Seine einzige Freiheit war, sich seine tägliche Tour durch die Salons der Stadt selbst zusammenstellen zu dürfen. Dann aber, bei der allwöchentlichen Teamsitzung nach Schichtende würde er sich wieder verteidigen müssen. Ausfallzeiten, Versäumnisse, unzufriedene Kunden. Die Liste war mal länger, mal kürzer und es gab selten einen für sich allein genommen schwerwiegenden Grund, weswegen ihn der Chefdisponent oder die Kollegen länger rügen würden. Aber nur selten kommt es zu scharf vorgebrachte Ermahnungen. Wie ein Schwarm Kräehen sehen sie aus in ihren dunkelgrauen Monteursjacken, denkt er. Und er muss zuhören, wenn ihr Kreischkonzert beginnt, kann sich nicht verstecken, wenn ihre Schnäbel auf ihn niedergehen. Die Maschinen schweigen. Oder besser: Sie sprechen sein Sprache. Man muss lernen, eine Stimme in ihnen, aus ihnen heraus zu hören. Er ist, denkt er, denkt er oft in den letzten Tagen und Wochen, er ist jetzt beinahe vierzig Jahre alt. Insgesamt, so beurteilt er seine berufliche Situation, besteht also womöglich kein Grund, sich noch einmal oder jemals wieder, in eine andere, traurige Grube fallen zu lassen. Nur ein paar Schritte entfernt von „GreenWash“ liegt die U-Nahn-Station. Der Dienstwagen, einer sieben, ist, leider, leider, nicht für die private Nutzung vorgesehen. So oder ähnlich hatte es geheißen, als er den Chefdisponenten einmal, vorsichtig diesbezüglich angefragt hatte. Natürlich hätte er gern diese Vergünstigung gewährt, prinzipiell. Er sei aber schließlich auch nicht dazu verpflichtet. Neben der Tatsache, dass er für „GreenWash arbeitet, hatte er es mittlerweile auch als sein Schicksal angenommen, für den Weg zur Arbeit und zurück also die U-Bahn und den Bus nehmen zu müssen. Zwei Stunden Fahrzeit, jeden Tag. Zwei staubige Stunden, in denen er sich wie ein Stück Frachtgut quer durch die Stadt transportieren ließ. Nur aushalten Können muss man das, denkt er, die Nähe der Münder, der Körper, der Stimmen. Nur verstehen lernen muss man, dass es nichts zu verstehen gibt, dass der Nahverkehr und seine Passagiere keiner nachvollziehbaren Ordnung folgen. Dass eigentlich nichts um ihn herum irgendeiner Ordnung entspricht. Dass die letzten Ereignisse oder Konstellationen, die durch bloßes Hinschauen und Nachdenken zu verstehen waren, dass dies die Sachaufgaben des Mathematikunterrichts gewesen waren, denkt er. Fleckige Tintenspuren, kariertes Papier, schließlich zwei Striche unter einer einzelnen Zahl, die, plausibel oder nicht, die Lösung eines winzigen Problems war. Das denkt er, während er die Stufen hinabsteigt. Diesmal kein Vogel. Einmal aber war da eine Amsel, die sich hier herunter verirrt hatte. Er konnte sofort erkennen, dass das Tier mangels Orientierung nicht aus eigener Kraft mehr den Weg nach draußen finden würde. Aber obwohl der Vogel wie zufällig mal in die ein, mal in die andere Richtung lief, flog, flatterte, nie aber dem Ausgang zu, hatte es den Anschein, als sei ihm das vollkommen gleichgültig. Hin und wieder schien die Amsel sogar etwas vom Boden aufzupicken, so als bestünde zwischen ihrer Panik und ihrem gewöhnlichen Verhalten eine unsichtbare Barriere, als ob das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte. Die U-Bahn kam dann, noch bevor sich eine eindeutige Tendenz zwischen Angst und stoischem Geschehen lassen ergab, noch bevor sich das Schicksal des Vogels abzeichnete. Vielleicht hatte sie schließlich, wohl mehr zufällig als einer systematischen Suche folgend, den Weg nach draußen gefunden. Oder sie war, fatalerweise, in eine der beiden Tunnelöffnung geflüchtet und möglicherweise an den stromführenden Schienen verendet. Oder an Kraftlosigkeit, Orientierungslosigkeit im stickigen Dunkel der Tunnel. Eine Amsel hatte er danach nie wieder in der U-Bahn gesehen. Er wusste auch nicht, ob es sich dabei um einen unwahrscheinlichen Einzelfall handelte, oder um ein bekanntes, immer wieder kehrendes Phänomen. Der auf einer Länge von mehreren Metern auf der Wand gegenüber des Bahnsteigs angebrachte Name der Station hatte für ihn im Laufe der Zeit eine vertraute Rätselhaftigkeit bekommen. Die einzelnen, schwarzen Buchstaben erschienen ihm immer wieder wie unlösbare, unerklärliche Hieroglyphen. Möglicherweise, denkt er, hat sich durch die ständige Wiederholung, durch die sich zu Stunden und Tagen addierte Wartezeit und also den Blick auf die Zeichen eine Art von Abnutzung des eigentlichen Sinns entwickelt. Vielleicht, denkt er, besteht dieser Sinn auch nur darin, einen Reflex beim Betrachten auszulösen, die Gewissheit, das Gefühl hier am richtigen Ort zu sein, bereit für die Heimfahrt. Möglicherweise ist der Name schon zu einem Bild geworden, zu einer Landschaft aus Rundungen, breiten, bogenartigen Linien, die an Tempel-Portale erinnern, aus hohen, den Horizont dieser Bögen überragenden, Zypressen-artigen Stäben, die sich tiefer in den Boden eingrabenden, hakenförmigen Schwünge der beiden kleinen „g“. Das große „L“, die zwei wie in Trance sich schlangenförmig nach oben hoch windenden „s“, eines im ersten, eines im zweiten Teil des Namens. Beide Teile verbunden mit einem horizontalen Bindestrich, wie durch eine kurze, starke Brücke, denkt er. Direkt darunter, und die schwarzen Spuren der offiziellen Anbringung zum Teil überschneidend, übermalend sind, möglicherweise in der Nacht, einige bunte, hin gesprühte Zeichen dazugekommen. Frei und ohne Rücksicht auf einen Horizont oder Boden, wachsen die Schwünge wie exotisches Gestrüpp über die gekachelte Wand. Ein gelber Fleck, der glänzendes, grotesk aufgeblasenes, gummiartiges Material imitiert, bildet das Auge eines „O“. Ein „s“, grell, mit einer silbernen, den Buchstaben wie mit einem Panzer schützenden Umrandung versehen, ein „p“ oder ein „q“ – schwammig, rosa. An einigen Stelle unter den satt mit Farbe bedeckten Flächen haben sich kleine Rinnsale gebildet, sind, in der Anmutung von Luftwurzeln oder Lianen dieses Geflechts, ein Stück heruntergeflossen. Dieses Wort, der Begriff, vielleicht der Name von etwas oder jemandem, schwebend, frei, denkt er. Natürlich, weiß er, dass sich hinter den vermutlich in aller Eile hin gesprühten Zeichen so etwas wie Reviermarkierungen verbergen. Dass die kaum entzifferbaren Worte und Buchstaben möglicherweise einem grotesken Ritual folgen, das den unübersichtlichen Raum in Gebiete zerteilt. Und dass die Zeichen einen Anspruch auf diese Gebiete markieren. Die Herrschaft der bunten Zeichen, ein unsichtbarer Krieg zwischen rivalisierenden Gruppen, vermummt, in der Nacht ausgetragen. Ob jemand der hier mit ihm auf den U-Bahn-Zug wartet, die Zeichen zu lesen imstande ist? Angst oder Stolz spürt, angesichts dieser Markierung? Ob für einen dieser Menschen der Bahnsteig, der Tunnel, die Welt oben, durch die bloße Kenntnis der Zeichen einem anderen Gesetz folgt? Auf einer der Metallbänke rechts von ihm sitzt eine Frau im Trenchcoat. Unbedeutend, denkt er. Wie so vieles. Da ist nichts, was sie heraushebt, auffällig macht. Da ist nur ein Mensch mehr. Und wäre sie nicht, außer ihm, die einzige Person auf dem Bahnsteig, er hätte sie nicht gesehen. So ist sie aber wie ein einzelnes Wort auf einem ansonsten weißen Blatt Papier. Eines, das alles bedeuten kann. Eines, das trotzdem alarmiert, aufschreckt, wie ein Warnhinweis, ein Schrei. Einsilbig und laut. Mit einem lang angekündigten Rauschen und Summen, eines schabenden Geräusches, dessen Distanz kaum auszumachen ist, schwebt der U-Bahn-Zug heran. Er steht dicht an der Kante, die ersten Fenster wischen schnell an seinem Gesicht vorüber. Eine Verzerrung, gebogenes Licht, gestauchte Gesichter, dann immer langsamer. Artikulierte Zeichen, Gesichter und Einzelheiten von Gesichtern. Oft hat er, wartend, die Mäuse im Gleisbett beobachtet. Aus der Distanz und einen flüchtigen Blick sind sie schwer auszumachen, gleicht die Farbe ihres Fells genau der des Schotters. Es ist nicht ihr Fell, dass sie schließlich doch verrät, sondern ihre Bewegung zwischen den Steinen. Es sind die Linien, die Bindestriche ihrer Schwänze. Ist es das erstaunte „o“ ihrer kleinen, beinahe kugelförmigen Körper? Die Mäuse, denkt er, huschen wie die Noten unsteter Klänge auf der Partitur der Schienen und Schwellen umher. Die Frau sitzt ihm nun plötzlich gegenüber. Wessen Schuld? denkt er. Und danach, wie absurd das ist, an Schuld zu denken. Er kann sich nicht erinnern, ob sie vor ihm hier gesessen hatte. Der Gedanke, sie könnte glauben er habe, als Zweiter, seine Platzwahl von der ihren abhängig gemacht, ist ihm unangenehm. Die Fenster werden zu schwarzen Spiegelflächen, sobald der Wagen in den Tunnel einfährt. Er kann die Frau nicht ansehen, er kann aber auch nicht aus dem Fenster sehen, er kann nicht gegen die Frau blicken, nicht gegen die Fenster. Und so bleibt seinem Blick nur die unauffällige Tiefe des Wagens. Er denkt an das Buch im Rucksack. Er wagt nicht, es auszupacken. Der richtige Augenblick, das Lesen als Hauptbeschäftigung während der Fahrt erscheinen zu lassen, ist verpasst. Würde er es jetzt hervorholen müsste das lesen zwangsläufig wie eine erzwungene Beschäftigung aussehen. Die Frau, das einsame Wort war, ohne überhaupt zu sprechen, zu einer Überschrift geworden. Oder hatte sie gesprochen? Ein streifender Blick, und die Feststellung, dass es sich bei dem Mantel wohl doch nicht um einen Trenchcoat handelt. Ein weiterer, vorsichtiger, schneller Blick und die Erkenntnis, dass die Haare der Frau möglicherweise braun statt schwarz sind, dass sie Lippenstift trägt. Dass sie ihn ansieht. Das ist lächerlich, denkt er. Sich wie auf einer Klassenfahrt zu benehmen. Schreiben lernen, lesen lernen, denkt er. Und er erinnert sich an ein Schulbuch mit großen, einfachen Worten in Schreibschrift. An Begriffen, die immer nur aus zwei in akkuraten Schwüngen dargestellten Silbe zusammengesetzt zu sein scheinen. Kindernamen, Namen für Haustiere. Ist das nicht auch der Ursprung meines Namens, denkt er? Die Kindersprache, die einfachen Silben, der Vogel, der vorhin seinen Namen gesungen, gesprochen hat. Die Scham gegenüber der unbekannten Frau die ihn, aber nur vielleicht, angesehen hatte. Der Scham beim Gedanken an seine Schulzeit, das Fett der Butterbrote, eingezogen in die Seiten eines Schulbuchs. Schwünge, und sein kläglicher Versuch das mit der verbogenen Feder seines blauen Kunststoff-Füllers auf ein liniertes Stück Papier zu übertragen. Die Partitur der Mäuse, denkt er. Beim nächsten Halt drängen sich mehr Menschen in den Wagen, stehen auf und schieben sich heraus. Wenn eine Stimme zu mir sprechen würde! Wenn aus der Erstarrung etwas kommen würde, wenn au mir die richtigen Worte kommen würden! Er legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen. Jetzt, denkt er, ist es mir egal, was sie denkt. Wenn das nur möglich wäre, wenn das nur machbar wäre, denkt er. Warum, um Himmels willen ist alles das so eine Zumutung! Warum „GreenWash“? Wozu die Schreibübungen in dem nach Leder und Knetgummi und Wachsmalstiften riechenden Klassenzimmer? Warum die kreidig-staubige Hand der Lehrerin, die nach seiner greift, den Füller führt, an seiner Stelle aber seine Hand mit dem Füller nicht loslässt. Warum immer wieder die Wagner und die Vorträge? Es ist ein Rauschen in ihm, ein kleiner, befreiender Triumph. Ein donnernder Akkord, eine Harmonie ist da, weit hinter den geschlossenen Augen, wie das Zuschlagen einer feuerfesten Tür. Man kann, denkt er, hier unten im Schacht das alles vergessen. Aber man nimmt ja auch etwas mit. Man strengt seinen Kopf nicht so sehr an, wie oben. Aber das Altwasser dieser, dieser Wahrnehmungsströme. Ihm gefällt das Bild eines toten Flussarms, in dem Worte herum schwimmen wie alte Baumstämme. Er denkt an einen Tümpel, der durch das Herabregnen von Erinnerungen gefüllt worden ist. Er stellt sich einen Holzstamm vor, der mitten in diesem wer weiß wie tiefen Weiher eingerammt ist. An ein Schild, dass am oberen Ende angebracht ist. An die Tiefe unter dem Wasserspiegel; das Wasser, überzogen mit einer öligen Schicht, mit haarfeinen, flirrenden Wasserläufern und Mücken darüber. Ein Schild mit drei Worten direktiven Charakters. Wer immer es liest, weiß wo die Angst herkommt, die aus der Tiefe des Weihers steigt, wie Blasen mit fauliger Luft. Der Stamm hat eine Schicht aus weichem Sediment, aus verwesendem Laub durchstoßen. Steckt in schwarzem Sand. Oder Lehm. Silberne oder grau-transparente Fische. Gallert, irgendetwas Pflanzliches. Schlingen aus Unterwassergekröse, Plattwürmer, bizarre Larven, Mundwerkzeug. Das Wort Mundwerkzeug. Das Sprechen, denkt er, öffnet die Augen, blickt ins Licht. Das Sprechen endet nie. Nie. Die Mundwerkzeuge. Darum hat der den dunklen Weiher verlassen. Verlassen müssen. Jemand spricht in sein Mobiltelefon, Handy, Smartphone. Abgehackte, portionierte Worte. Lachen. Tatsächlich, jemand lacht in das Gerät hinein. Jemand spricht zu dem Gerät, oder jemand spricht in das Gerät? Es gibt, denkt er, keine Ruhe. Und er muss dem Gespräch folgen. Ja, ja, glaube ich auch. Ja, ja. Eben. Stimmt. Jaja. Ist auch … ja. Ah ok. Ja. Die Arbeit … äh .. voll gut. Na und ich hab’ jetzt fünf sechs Seiten … jaja … ja, ich schreibe langsam… ja, hat er zehn Jahre auch gemacht. Geniess noch den Abend, ich meld‘ mich dann bei dir .. ja gerne. Alles klar .. Es sind klebrige, zähe, wurmartige Gebilde. Wie mit Teer überzogenes Geschlinge. Man kommt nicht heraus. Und es bebt, und schwankt um ihn herum. Er wird das nicht los. Und jetzt bemerkt er, dass die Frau nicht mehr da ist. Das da wider ein andere sitzt wo zuvor die Frau mit dem Trenchcoat gesessen hatte. Das ist gelöscht, wie vorher. Den da war nichts. Der Platz, auf dem die Frau vorher gesessen hatte, der war vorher leer und der ist jetzt leer. Da war etwas, ganz am Anfang. Als er in den Wagen gestiegen ist. Oder noch weiter zurückliegend, wie lange? Als er gewartet hat. Und festgestellt hat, dass da etwas ist. Und festgestellt hat, dass das nur eine Lücke war. Eine Lücke die wie ein Mensch aussah. Eine Lücke, die mit einem Trenchcoat verschlossen war, bedeckt war. Es schwankt jetzt auch etwas Wässriges in ihm. Das Geschlinge der Worte, das jetzt aus einer anderen Richtung im Wagen kommt. Oder wieder aus der Nähe, oder von oben, oder unten. Da ist immer jemand, der die Mundwerkzeuge bedient. Jeder hat sein Mundwerkzeug, denkt er, jeder hat sein eigenes Mundwerkzeug dabei, und heraus kommen die Wörter wie Würmer. Und es ist ihm, in diesem Moment, als ob die eine Stimme die andere anstecken würde. Die Sprache, die springt von Sitzplatz zu Sitzplatz. Was die anderen sagen, es prallt an den Scheiben ab, bleibt im Mund eines Schülers stecken. Der spuckt die Worte heraus, in einem langen Schwall auf sein Gegenüber. Ein lächerliches Spiel, in dem es keine Möglichkeit gibt, die Regeln zu ändern oder wenigstens, den Regeln folgend, einen Gewinn zu erzielen, einen Punkt zu machen. Und die so reden spitzen die Lippen, schieben den Unterkiefer grotesk nach vorn oder reißen die Augen auf, als sei aus dem Gerät, in das sie hineinsprechen eine brüllende Flamme emporgeschossen. Ich hab‘ ihm das so gesagt …! Er so, und wieder den ganzen Nachmittag … meine Mutter hat mich … dann sind wir ... das kann der doch gar nicht beweisen ... mal was anderes probieren … Er richtet sich ein Stück auf, er denkt kurz an die Frau mit dem Mantel zurück, er weiß, dass es das hier nicht gibt, eine zufällige Wiederbegegnung? Aber was wäre, wenn? Würde sein Mut dann ausreichen, sie anzusehen? Und was würde daraus folgen? Dass sie nicht mehr nur das eine Wort in einem Regen aus Worten wäre, dass sie sich nicht noch einmal in eine Leerstelle verwandeln würde? Nichts lässt sich hier unten in den Wagen festhalten, niemand ist etwas anderes, als ein Schatten mit einem Gesicht, ein hohler Körper, ein Fisch der sich zeitweise in einem Netz verfangen hat, und dessen unablässiges Zappeln ihn bald wieder daraus befreien würde. Wieder brennt ein Wort auf, dicht neben seinem Kopf, die Begriffe, Namen, die stumpfen „Äh“ und „Nö“ schlagen ein, er wird getroffen, er kann nicht ausweichen. Der Mann, er kann ihn jetzt, da der Zug wider den Bahnhof verlassen hat, das wievielte Mal schon, als Reflexion in der Scheibe sehen. Der Kopf erscheint abgeschnitten, der Hals zittert, der Kehlkopf bewegt sich auf und ab wie ein pickender Vogel! Seien sanfte Stimme brüllt, seine Stimme rückt an ihn heran. Näher, näher; sie fließt und tropft. Seine Stimme bleibt jetzt kleben, wie Schaum, das bleibt hängen, wie Speichel, das schwebt durch die Luft und sucht sich Ihren und Münder. Man darf den sanften Stimmen-Schaum keinesfalls, denkt er, keinesfalls einatmen! Er schließt den Mund, beißt die Zähne aufeinander, seine Kiefermuskeln zucken, die Backenzähne reiben aufeinander sein Kiefer beginnt zu schmerzen. Er schwitzt, hofft auf eine kurze, unauffällige Ohnmacht, einen erfrischenden Schlaf. Aber der infizierte Schaum schwebt und fliegt weiter. Aus allen Richtungen dieses beengten, hellen Raumes, der sich jetzt durch einen unendlichen Tunnel bewegt, kommt der tollwütige Geifer heran. Ein Hund. Schaum an der Schnauze, aufgerissene Augen. Man hatte den Medikament, starrte ich auf den Hund in der Ecke des schmutzigen Zwingers. Der Bauer in seinen groben Cordhosen, dessen dünne Beine in kotbeschmierten Gummistiefeln steckten, der seine ebenfalls aus dunkelgrünem, fleckigen Cord bestehende Mütze zurechtrückte, der Bauer betrachtete das alles mit einer schon jetzt dankbaren Miene. Er würde sich, wenn das schwarze, geifernde, kläffende Bündel von meinem Vater eingeschläfert worden ist, um einen neuen Hofhund kümmern. Er würde ihn, wie diesen an eine lange Eisenkette legen, ihm zweimal am Tag Essensreste hinstellen. Er würde ihn verwenden wie ein Werkzeug. Mein Vater musst nun irgendwie dem aufgebrachten, in vielleicht vorahnender Todesangst knurrenden, fast toten Tier die Spritze verabreichen, ohne sich selbst eine Infektion zuzuziehen. Mit gleichzeitig brüchiger, und wütend befehlender Stimme wies er den Bauern an, den Hund mittels eines Besenstiels so in die Ecke des Käfigs zu treiben, so an das Gitter zu drücken, dass er, mein Vater die Spritze würde verabreichen können. Am Ende gelang es. Der Hofhund schnappte, jaulte auf, krümmte sich zusammen. War das Bewusstsein im mächtigen, schwarzen Schädel des Hundes schon selbst mit dem Tollwut-Virus infiziert? Oder ahnte er auf eine tierische, bestialische Art von seinem bevorstehenden Tod? Im krausen, dichten Fell waren die Augen auf den ersten Blick nicht zu erkennen gewesen, jetzt aber, da er sie sehen konnte, befiehl ihn eine Panik: So sanft und schwarz waren sie , dass, wenn auch der widerspenstige Leib des sterbenden Tieres sich seinem Tod jetzt noch zu widersetzen versuchte, diese Augen sich schon ihrem Schicksal ergeben hatten. Jetzt, da er sich an diesen Patientenbesuch mit seinem Vater erinnert, als er sich an seinen Vater erinnert, schweben die Worte der anderen um ihn wie ein vielstimmiger Chor aus flüsternden Sängern. Der Schrecken, der von dem sterbenden Tier ausgegangen war, den er noch immer herholen konnte, er hatte damals noch nicht einmal mit seinem Vater darüber gesprochen, dieser dunkle Schrecken vermischte sich jetzt mit dem geflüsterten, wabernden, weit entfernten Stimmen des U-Bahn-Wagen. Was hätte sein Vater dagegen tun sollen? Der Tod des Tieres war ein herbeigeführter, pharmazeutischer Akt der Gnade. Und nach dem letzten Aufbäumen, der letzten Bewegung des Kopfes, dem letzten Zucken der Augenlider kam eine sanfte Stille und er traut sich, den Hund zu berühren. Wieder tragen ihn die Gedanken aus dem trüben Neonlicht und wieder landet er mit den Resten seiner Erinnerung in einer überdeutlichen wie in Glas geronnenen Wirklichkeit der Geräusche, der Laute, der Stimmen. Die sich nun nicht mehr voneinander unterscheiden lassen, die in ein Summen und Brummen übergegangen sind, das aus allen Richtungen kommt. Stimmen, die wie das Brackwasser eines sommerwarmen, infektiösen Tümpels über ihm zusammenschlagen. Nein! Er reißt sich los, stößt sich mit beiden Beinen ab, schlägt hin, das Wasser um ihn herum trägt nicht. Aber er muss ach oben, nach oben und heraus! Andere Beine, die sich ihm in den Weg strecken, die Tür, er reißt sie auf, Blicke, Hände, die ihn zurückhalten wollen. Er zwängt sich durch einen engen Spalt, erreicht einen anderen Raum, den ein Dröhnen erfüllt. Er fällt auf den Bahnsteig. Der Zug fährt in den Tunnel, fährt endlich, endlich ohne ihn zurück in die Tiefe. Er beeilt sich, nach oben zu kommen. Er schultert den Rucksack, er denkt nicht mehr an die Frau. Als er die Treppe hinaufgeht öffnet sich über ihm ein inzwischen dämmriger Himmel. Die Worte hatten sich in ihr eigenes Blut verwandelt, waren in einem einzigen Tropfen Tinte zusammengelaufen. Ein einziger Tropfen Tinte aus diesem Nachmittag, aus diesen Seiten, der den Himmel dämmrige, blassblau färbt. Auf der letzten Stufe angekommen - er blickt umher. Er stellt fest, dass sich ein einheitlicher Lichtsaum um ihn ausgebreitet hatte. Das Licht hatte sich im Raum um ihn herum verteilt, die Tinte hatte sich in der schweren Luft ganz aufgelöst. Kein trüber Tümpel, keine blecherne Resonanz. Sein Kopf bleibt ein leeres Gefäß ohne Lärm, nur der Hall noch davon, der leise Widerhall, schwingt darin. Die Stadt steht um einen flachen, weitläufigen Hügel, um ein Plateau. Und die Häuser liegen, wie von selbst die Hänge heruntergerutscht, wie hingeschüttet oder zurückgedrängt von diesem Hügel, am Rand. Als vergessene Würfel und Quader, Spitzen, Dreiecke. Dann Straßen, rauchende Schornsteine in der Ferne; die Müllverbrennungsanlage mit ihren drei hohen Schloten. Das Krankenhaus, die Kirchen. Das Stadion. Und überall um ihn her die Stille eines Ortes, der aus der Stadt und ihren tausenden Ohren und Mündern, aus ihren Lautsprechern herausgehoben ist. Hier oben auf dem Plateau bleiben die Stimmen nichts als Geräusche, als Vibrationen im Grund. Direkt vor sich, keine fünfzig Meter vom Treppenabsatz der U-Bahn-Station entfernt, beginnt eine weite Betonfläche, die beinahe das ganze Plateau einnimmt. Er weiß, dass es sich beim Plateau im Zentrum der Stadt, um eine alte Mülldeponie handelt. Erst vor ein paar Jahren hatte man angefangen, den Müll weiter draußen zu verbrennen oder in riesigen Fabriken zu trennen und erneut dem Kreislauf aus Geben und Nehmen zuzuführen. Und dann, als man dem Müll Herr zu werden begann, oder das Problem des Mülls an den Rand der Stadt verschoben hatte, begann man auf dem Plateau eine neue Stadt, eine Stadt in der Stadt, besser: über der Stadt, zu bauen. Und das Plateau wurde asphaltiert und betoniert. Und in nicht einmal zwei Jahren waren Rohbauten gewachsen, waren Straßen angelegt worden, hatte man die U-Bahn erweitert. Der Himmel über dem flachen Hügel, über dem Plateau, war selten von Wolken bedeckt. Das Licht hier ist anders als unten. Vielleicht, denkt er, ist diese stumme Stadt nur darum geplant worden. Nur, um Menschen wie ihm, der ja eigentlich mehr aus Zufall hier gelandet war zu zeigen, dass es eine Stille geben konnte, auf die niemand zu warten brauchte, die einfach da ist. Aber es gibt eine große Enttäuschung, die mit der Stadt über der Stadt verbunden ist. Etwas, das den Lauf hemmt, und die Gedanken, den Blick. Vier unterschiedlich hohe, dabei identisch aussehende Bürotürme, die auf einem Wald von wuchtigen Säulen stehend, die der vermutlich eigentliche, tatsächlich einzige Grund für das Vorhandensein des Plateaus sind. Die vier Türme nehmen das Licht des Himmels in sich auf, indem sie es an ihren glatten Außenwänden spiegeln. Sie stellen den Himmel auf den Kopf, sie irritieren den Blick, zumal wenn man am Fuße der Gebäude steht und hinaufblickt. Zumal, wenn man dies zu dieser Tageszeit tut, da die Sonne den Boden ebenso hell erscheinen lässt, wie den Himmel, und der Himmel sich mit seiner blassen Klarheit in der ausschließlich aus Fensterflächen bestehenden Fassade der Türme spiegelt. Ganz anders wiederum der Säulenwald: Er, weil kein Mensch hier zu sehen ist, läuft langsam und mit in den Nacken gelegten Kopf immer näher an das Gebäude heran. Er sieht die Außenwand wie eine Eisfläche, das Gebäude wie einen Eisberg auf sich zu treiben. Er lässt sich, mit dem Eintreten in den Säulenwald von dem auf ihn herabstürzenden Turm begraben. Die Säulen, er vermeidet jetzt den Vergleich mit Baumstämmen, nennt den Säulenwald nicht mehr „Wald“, sind nicht geradlinig in Reihen angelegt, sondern ungeordnet, wenn auch, vermutlich aus statischen Gründen, gleichmäßig unter dem Gebäude verteilt. Schon nach wenigen Schritten in den Säulenwald hinein spürt er das kälter Werden der Luft. Gleichzeitig ist ihm, als ob, was sich über ihm auftürmt, als ob die Last des Gebäudes ihn niederdrücken wollte. Was an natürlichem, klarem Abendlicht fehlt, wird durch ebenso gleichmäßig wie die Säulen verteilte Leuchten ersetzt, von denen eine gleichmäßiges, stumpfes und, er denkt, tatsächlich pulvriges Neon, ausstrahlt. Er streckt die Hand nach oben, stellt sich auf die Zehenspitzen und erreicht mit den äußersten Fingergliedern die Decke. Er streicht mit ausgebreiteten Armen links und rechts an den Säulen entlang. Er beginnt sich an den Schildern aus Blech und Kunststoff zu orientieren, die an den Säulen und an der Decke angebracht sind. Das Versprechen der Schilder ist diffus, dabei aber nicht, er denkt: ziellos. Dabei macht es keinen Unterschied, ob er sich entsprechend der am Boden oder den an den Säulen angebrachten Hinweisen bewegt. Es ist das erste Mal seit, er weiß nicht wie vielen Jahren, dass gerade darin eine unendlich große Freude liegt. Sind es Kreise, oder Schleifen, Schwünge oder Geraden auf denen er sich hier unten bewegt? Trotzdem immer tiefer in den Säulenwald hinein, der Horizont, der Himmel über dem Plateau ist schon längst nicht mehr zu sehen. Ob die Sonne untergegangen war oder zu viele Säulen sich vor und gegen diesen Horizont geschoben haben, geschuldet seinem immer tieferen Eindringen in den Wald, ist jetzt nicht mehr zu erkennen. Die Hinweise auf den Schildern sind nicht immer eindeutig. In einigen Fällen sind es Zahlen, in anderen Namen oder Begriffe. Nicht immer stimmen die Verweise der Schilder untereinander. Manchmal stimmen die Entfernungen nicht, oder die angegebene Richtung. Und so enden die Verweise im Nichts. Und er beginnt mit einem neuen Hinweis, an der Decke. Und er lässt sich diesmal von den Verweisen der Deckenschildern leiten, solange, bis wieder eine Verweiskette endet. Und er beginnt von Neuem, er beginnt, als er wieder den Vogel hört. Die Vogelstimme ist schwach oder weit entfernt. Aber er versucht es. Aber es ist nicht, nein, denkt er, das ist mit Sicherheit nicht sein Name, den der Vogel ruft.