Erneuter Vortrag vor der Akademie

 

Sehr verehrte Mitglieder der Akademie,

 

mit gleichermaßen Stolz und – ich gebe es offen zu – Verärgerung habe ich Ihre erneute Einladung* angenommen, Einblicke in mein Leben als Mensch zu geben. Einerseits Freude, da Ihr Interesse sicher aus dem geistigen Genuss meiner Darstellungen, Analysen und dem Stil meines vergangenen Vortrages zum äffischen Vorleben resultiert. Andererseits begleitet mich aber Verärgerung, ja, bittere Enttäuschung gar, denn bedeutet die erneute Einladung mir doch nichts anderes, als dass das Thema meiner Herkunft noch nicht mit der Darstellung meiner Ankunft abgeschlossen ist. Und das, obwohl das „Loch“ meiner Herkunft längst geschlossen und meine Sprache geschliffener ist als die der meisten von Ihnen, auch mein Fell hat unlängst die Farbe eines grauen Maßanzugs angenommen und durch tägliches Training gleicht meine Haltung einer mit Stolz erhobenen Brust. Was also soll ich Ihnen über das Menschsein noch sagen, was Sie nicht selbst wissen können?

 

Ich habe mich trotzdem entschlossen, Ihnen zu berichten, und dabei den Blick nach vorne und nicht nach hinten richtend einen Eindruck meiner politischen Ambitionen zu geben. Das Feld der Politik bietet mir Möglichkeiten, mein Menschsein – oder das, was ich als Menschensein erachte – über mich hinausweisend auch auf mein Umfeld, auf die Gesellschaft, ja auf die Menschheit als ganze auszuweiten und positiv gestaltend weiterzuentwickeln. Sie sehen in mir also einen vorzüglichen Vertreter des Konservativismus und des Erhalts dessen, was wir Menschen geschaffen und erschaffen haben.

 

Erhalt, meine Herren, das ist Ihnen so klar wie mir, bedeutet immer auch Grenzen aufzuzeigen. Sie werden feststellen, dass ich auch hier mit strengster Konsequenz meine Überzeugungen verfolge, und Sie wissen von meinem früheren Bericht, dass ich in den Jahren meiner Heimischwerdung keine Mühen gescheut habe, das zu erreichen, was zu erreichen ich mir vorgenommen hatte. Es war nichts weniger, als an allem Menschlichen zumindest im Durchschnitt beteiligt zu sein. Sowohl das Wissen als auch das Gefühl, sowohl die Freude als auch das Leid, sowohl den Genuss als auch den Neid, zu erlernen, nein mehr noch: zu verinnerlichen und sichtbar zu machen. Denn was, meine Herren, nützt das Wissen, ohne es anzuwenden, was nützt die Freude, ohne sie zu mitzuteilen und was nützt der Genuss, ohne ihn zu zeigen? Diejenigen aber, die diesen Errungenschaften nicht mit Anerkennung oder zumindest Neid begegnen, und mithin den Wert der menschlichen – und meiner ganz persönlichen – Errungenschaften leugnen, diesen Individuen setze ich Grenzen der Moral.

 

Glauben Sie mir: Kein Individuum unter Ihnen und unter uns wird diesen Werten mit Gleichmut begegnen, außer diejenigen, die diese Werte nicht als ihr eigen erlernt und – um mein eigenes Wort zu verwenden – verinnerlicht haben. Menschen also, denen das Menschsein nicht eingeschrieben ist und denen das Loch Ihrer Herkunft mehr als nur einen Luftzug an die Fersen weht, sondern denen der Sturm ihrer Vergangenheit die Werte des Menschlichen gleichsam davon bläst. Und glauben Sie mir ebenfalls, diese Werte bleiben so lange erlernter Ballast, als bis sie tief im Innersten der Seele mit Blut und Schweiß eingeschrieben sind. Ich weiß, wovon ich rede, da ich diese schmerzhafte Prozedur durchlief! Wer aber kann das von den äffischen Wesen sonst noch behaupten? Dies ist auch der Grund, weshalb ihr menschliches Lachen in meinen Ohren immer noch wie ein äffisches Kreischen klingt, selbst dort, wo andere – wo Sie – es nicht mehr hören. Was ist der Affe denn für den Menschen sonst, wenn nicht Gelächter und schmerzliche Scham? Dies ist auch der Grund, weshalb ich mein großes Mitleid mit diesen „Kreaturen im Werden“ mit der strengen Härte des Behüters unveränderlicher Werte unterdrücke.

 

Jede Überzeugung, jede Moral steht aber auf wackeligem Grund, wenn die Argumente der Gegenseite wie Geschütze wirken und die eigenen Ansichten zu zerlöchern drohen. Wie kann ich mir meiner Sache also sicher sein? Nun, der Grund dafür liegt in einer Begebenheit, die ich als „initial“ bezeichnen möchte und Ihnen als Abschluss meines Berichts erzähle. So begab es sich, dass ich vor einigen Jahren erstmals zur aktiven Wahl des Parlaments zugelassen wurde – ein für meinen Werdegang wichtiger Schritt, wie Sie sich denken können. Aufs feinste zurechtgemacht, mit Anzug, Hut und Fliege, machte ich mich bei sonnigem Sonntagswetter also auf dem Weg ins Wahllokal, meiner Wahl-Entscheidung noch nicht sicher: konservativ pro Menschsein oder progressiv pro Menschwerdung. Beim Betreten des tristen Behördenraums, in das kein Sonnenstrahl drang, fiel mein Blick auf eine junge Familie, deren zwei Kinder mir fröhlich zulächelten. In bester Stimmung ob dieses wunderbaren Tages lächelte ich zurück. Auch die Eltern lachten miteinander und nahmen mit Vorfreude, ihre bürgerliche Pflicht zu erfüllen, die Wahlunterlagen entgegen, wobei mir auffiel, dass tatsächlich nur die Frau zur Wahl berechtigt war. Der Wind der Herkunft des Familienvaters war den Behörden offenbar noch zu stürmisch, er war noch ein Mensch im Werden und nicht im Sein. Und so durfte er nicht an der Gestaltung der Welt seiner Familie und der Zukunft seiner Kinder, die er mit Liebe und Freude großzog, teilnehmen. Und in diesem Augenblick - Sie müssen es mir glauben - erfüllte ein helles, gleißendes Licht den trüben Raum, umschloss diesen bedauernswerten, erst noch werdenden Menschen und drang auch tief in mich hinein. Mein Entschluss stand nunmehr unverrückbar fest: Ich machte mein Kreuz bei den Konservativen und gegen das Werden. Das stärkste Argument für diese werdenden Kreaturen war mir just begegnet: Ich erkannte jetzo meinen schlimmsten Feind und war für meine Schlacht gewappnet.


*vgl. Franz Kafka "Bericht vor der Akademie"