Wer ist Bernd?



"Man kann nicht gleichzeitig aufrichtig sein und es scheinen."

(André Gide, Der Immoralist)


Ich bin vor kurzem zufällig auf zwei Bilder eines alten Klassenkameraden gestoßen, nennen wir ihn Bernd. Die Bilder zeigen Bernd in einem beruflichen Kontext. Es handelt sich zu einen um ein Bild von der Website seines Unternehmens und beim anderen um das Bild auf einer social media-Plattform im Internet, ebenfalls im Kontext seiner Arbeit. Der erste Eindruck ist, dass die Bilder ein klares Profil der Person wiedergeben sollen: Man soll wissen, mit wem man es zu tun hat und was für „ein Typ“, für ein „Charakter“ die Person ist. (Dafür spricht auch, dass social ja irgendwo im Graubereich zwischen persönlich und beruflich angesiedelt ist.) Doch irgendwie bleiben die Bildern mir seltsam fremd, etwas passt nicht zusammen und versperrt den Zugang zur Person. Ich betrachte sie und frage mich: Mit wem habe ich es wirklich zu tun?

 

Konventionen

 

Das erste Bild in schwarz-weiß zeigt Bernd im Portrait, die Haare sind leicht vom Bildrand angeschnitten und der Blick richtet sich direkt in die Kamera, scheint allerdings durch den Betrachter hindurchzugehen oder aber über ihn hinweg. Der Kopf ist leicht seitlich gedreht, alles vor einem einheitlich grauen Hintergrund. Ein schwarzer Anzugkragen und ein weißer Hemdkragen sind noch zu erkennen, die Krawatte nicht, allerdings lässt das geschlossene Hemd auf eine Krawatte schließen. Die Haare sind streng zurückgegelt (ähnlich dem klassischen Stil der Broker), der glattrasierte Mund zu einem leicht spöttischen Lächeln, die Augen dabei fixierend, verstärkt durch die relativ helle Augenfarbe. Das Bild drückt Professionalität aus, eine Spur Arroganz, Dessinteresse an dem Gegenüber als Person, als Mensch, allenfalls als Geschäftspartner, aber dafür hohe Verlässlichkeit und Diskretion – das Lächeln scheint zu sagen: ‚ich weiß mehr als du, bin aber verschwiegen‘. Vielleicht sucht Bernd einen hierarchischen Sparringspartner, dessen Interesse ebenfalls ausschließlich auf das berufliche Ziel gerichtet ist. Der Habitus lässt auf monetäre Interessen schließen.

 

Das zweite Bild, ebenfalls schwarz-weiß – zeigt denselben Bernd. Vor einem schlecht erkennbaren Hintergrund mit räumlicher Tiefe ist sein Oberkörper leicht seitlich zu sehen. Er sitzt wahrscheinlich am Schreibtisch. Die Kleidung besteht wieder aus weißem Hemd und dieses Mal schwarzer Anzugweste sowie schwarzer Krawatte (Oxfordknoten). Sein Gesicht ist konzentriert leicht nach unten gerichtet als würde er lesen; nach der Kleidung zu schließen, könnte es sich dabei um eine Wirtschaftszeitung handeln oder um Akten. Bernd ist in seiner Tätigkeit versunken, bemerkt weder Fotograf bzw. das Fotografiertwerden noch scheint er interessiert zu sein an einer Unterbrechung der Tätigkeit, z.B. durch Kontaktaufnahme durch Dritte. Bernd ist, wie man sagt, ganz bei sich bzw. versunken in seine Tätigkeit.

 

Im gleichen Maße wie beide Bilder hohe Professionalität ausdrücken, drängen sie auch das „Menschliche“ der Person in den Hintergrund. Bernd fehlt auf den Bildern jede Form von Vergnügen, von Emotionalität - verstärkt wird dieser Eindruck durch die schwarz-weiße Farbgebung. Insgesamt erfüllen die Bilder die Konventionen professionell gemachter  Businessbildern und zeigen Bernd in der Rolle des Geschäftsmanns.

 

In beiden Bilder gibt es aber „Störfaktoren“, die das klassische Businessbild durchbrechen. Im ersten Bild fällt auf, dass Bernds zurückgegelten Haare am Nacken relativ lang sind. Nicht so lang, als dass er wirklich aus der beruflichen Konvention ausschert , aber lang genug, als dass es nicht ins gewohnte Schema von Angestellten oder Manager im Anzug passt. Im zweiten Bild fällt der scharfe Kontrast auf: Es gibt außer einem "dunklen Schwarz" und einem "hellen Weiß" fast keine Graustufen. Einzig im Gesicht sind die Schatten eines Dreitagebartes und dunkler Augenränder sichtbar, die zusammen den Eindruck von Übernächtigung - vielleicht Überarbeitung - verschaffen.

 

Das Scheitern des Selbstbildnisses

 

Entfernt man sich gedanklich von den Bildinhalten und begibt sich auf die Handlungsebene, so stellen sich die Bilder in einem neuen Licht dar. Zunächst, sie sind aufgrund der hohen Professionalität der Darstellung des Businesskontextes nicht zufällig entstanden: Das Portrait ist im Studio erstellt worden, perfekt ausgeleuchtet und vermutlich Teil einer Bilderserie. Das zweite Bild hingegen gibt sich dem Anschein der Zufälligkeit. Es ist allerdings im Kontext der Handlung auf dem Bild (konzentriertes Arbeiten) unwahrscheinlich, dass es Bernd nicht zumindest aufgefallen ist, von jemanden fotografiert zu werden. (Tatsächlich zeigt die spätere Recherche im Internet, dass es noch weitere Bilder aus der Reihe gibt, bei der Bernd tatsächlich am Schreibtisch sitzt und auch in die Kamera schaut – das zweite Bild dürfte also ebenso wie das erste gestellt sein.) 

 

Die Bilder wurden also von Bernd für die Selbstdarstellung auf Websites im Businesskontext – vermutlich aus einer Reihe von Bildern – ausgewählt. Der Moment der Wahl dieser Bilder fällt notwendigerweise nicht mit dem im Bild gezeigten Moment der Tätigkeit zusammen, genauer: das Handeln hat einen anderen Referenzpunkt. Im Bild geht es Bernd, versunken in seiner Tätigkeit, um das Geschäft – auch wenn es nur für die Kamera gespielt ist. Denn selbst, wenn er beim Fotoshooting nur versucht, seiner Vorstellung von sich selbst bei der Arbeit zu entsprechen, ist er im Moment des Spielens gedanklich auf die Arbeit gerichtet. Bei der Auswahl der Bilder hingegen geht es Bernd darum, wie er gern im Bezug auf die Arbeit gesehen werden will. Er ist intentional bei der Repräsentation seiner selbst z.B. für das Networking. Es besteht also eine Diskrepanz: der Akt der Auswahl des Bildes unterscheidet sich notwendigerweise von dem in dem Bild gezeigten Akt der Arbeit.

 

Diese Diskrepanz offenbart eine Differenz zwischen dem Akt des Auswählens und der gezeigten Handlung selbst. Sie geht aber noch weiter: Wenn Bernd so gesehen werden will, wie er in dem Bild zu sehen ist, sagt es etwas über das Selbstbild (oder Identität) von Bernd aus. Er wählt dasjenige Bild aus, das ihn als diejenige Person zeigt, die er (zumindest im beruflichen Kontext) gern sein möchte, aber im Akt des Auswählens per se nicht ist. Damit wählt Bernd für den im Bild dargestellten Bernd (also für sich selbst) eine Identität, die er qua Auswahl erst noch zu erfüllen hat. Diese Identität auf dem Bild von ihm (als realer Person) ist aber nicht bloß Abbild seiner Tätigkeit im realen Beruf, da ja gerade festgestellt wurde, dass er beim Akt des Fotografiertwerdens nicht eigentlich als Geschäftsmann agiert, sondern vielmehr ihn nur stellt. Das Bild zeigt also Bernd als Geschäftsmann, der er gar nicht ist und in exakt dieser Form auch noch nie war. Anders formuliert: Bernd strebt an, das zu werden, was er auf dem Bild zu sein scheint, aber in Wirklichkeit gar nicht ist.

 

Vorbilder und Nachbilder

 

Wenn Bernd anstrebt, etwas zu werden, was er nicht ist, dann benötigt er dafür einen Referenzpunkt, nämlich das, wonach er strebt. Dies kann z.B. ein archetypisches Idealbild oder eine künstliche Vorstellung eines Geschäftsmannes sein. Es war bereits die Rede von den Konventionen von Businessbildern, deren Rahmen hier gleichzeitig eingehalten und überschritten wird. Bernd strebt offenbar danach, einem Selbstbild von sich als eines Geschäftsmannes zu entsprechen, das sich gleichzeitig innerhalb der Konventionen bewegt und aus eben dieser Konventionen ausbricht. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Möglichkeiten einander auszuschließen, doch tatsächlich bedingen sie sogar einander: Gesetzt das angestrebte Selbstbild würde vollständig im Rahmen des Konventionellen aufgehen, so würde Bernd lediglich vorhandene Konventionen spielen - kein Mensch erfüllt vollstündig eien Konvention. Würde das Selbstbild hingegen vollständig außerhalb des Rahmens der Konvention stehen, wäre überhaupt kein Bezug zum Thema gegeben, außer vielleicht der Satire auf Businessbilder. Es zeigt sich daher eine Dialektik zwischen einerseites dem Dazugehören und die Zugehörigkeit-verlassen-wollen und andererseits zwischen Nicht-dazuzugehören und dem Dazugehören-wollen. Einfacher gesagt: Eine Dialektik zwischen drin-sein und raus-wollen oder zwischen draußen-sein und rein-wollen. Um glaubhaft zu sein, kann Bernd nicht nur nicht dasjenige Bild vollständig erfüllen, das er erfüllen möchte. Er kann nicht mal wollen, das Bild vollständig zu erfüllen, was er erfüllen möchte, weil er es dann nicht mehr glaubhaft erfüllt.  

 

Wie  auch immer: Das Bild zeigt eine andere Person als auf dem Bild zu sehen ist. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass das (unterstellte) Ziel des Bildes nie erfüllt werden kann, nämlich ein klares Profil der gezeigten Person zu vermitteln. Stattdessen wird die Person auf dem Bild und "hinter" dem Bild aufgerieben zwischen dem Dazugehören und dem Nicht-dazugehören. In der Unentscheidbarkeit dieser beiden Möglichkeiten bleibt die Frage offen: Wer ist Bernd?