Wespen


„Heute ging, heute ist gegangen, heute wird vergehen. Vergeben, ich mir vergeben werde. Weil ich mir eines Tages vergeben werde. Müssen. Am Ende sind es die Straßen. Und an den Stellen, wo sie aufeinander treffen, an den Kreuzungen, strömen Menschen zusammen. Das lässt sich nicht verhindern. Durch meine Ansichten, wie ich sie sehe, kann sich in mir eine Strömung stauend hochschaukeln, die die Menschen außerhalb von mir erkennbar macht.“

Mit dem Stein unter sich, auf dem er Platz gefunden hatte, die Hände wie eine Schüssel um seinen Kopf gestülpt, fühlte er dieses Vibrato der Sonne und der summenden Unruhe um in herum langsam engere Kreise ziehen. Mit der Wut stechlustiger Spätsommerwespen stürzte das Wollen Anderer immer wieder auf ihn ein. Schlug gegen seinen Kopf, den er nur mühsam mit den Händen schützen konnte. Der warme Stein unter ihm blieb. Er würde ihn auch morgen noch erwarten, wenn die Bäcker und Kioske ihre Türen noch nicht geöffnet haben werden, wenn die Letzten der Nacht ihre Trunkenheit in Müdigkeit verwandelt den Weg in irgendeine Haustür suchen werden. Er kannte keinen, hatte nie Bekanntschaften geschlossen, nie auch nur länger als nötig mit den Menschen in den Geschäften zu tun gehabt. Gab es doch etwas zu regeln, wie den Kauf einer Packung Zigaretten oder einer Flasche Bier, dann tat er das stets stumm oder eher: wortlos. Es waren nicht die Menschen, die seine Fähigkeit den inneren Ozean in Ruhe zu bringen immer wieder herausforderten. Es waren ihre Worte, ihre Gespräche oder Monologe, ihre Anpreisungen, Andeutungen und Loblieder. Ihre mit Teer getränkten Lobgesänge, ihre honigsüße Verachtung. Die zitternde Sprache, die Sätze die um Worte ringen, die aus den schmutzigsten Mündern herausgeschleuderten Phrasen-Fratzen waren im höchsten Maße demütigend für ihn. Blickt der, den Kopf nur leicht gehoben, gerade so viel, dass er den ein oder anderen Vorbeigehenden ins Auge fassen konnte, blickte er so auf dem Stein sitzend die Leiber an, von außen, dann blieb nicht nur die Ruhe, sondern er entwickelte eine Zuversicht, die sich wie handwarme Milch in ihm auszubreiten begann. Die sprachlos einherschreitenden oder hetzenden, sich in Gruppen oder allen zurechtfindenden Leiber waren keine Bedrohung. Es gefiel ihm sogar die Kargheit ihres Aussehens, ihre Kleidung, ihren Gang, ihren Geruch um Eigenschaften zu erweitern, die er sich beim Anblick dazu dachte. Dem hinkende Sportler mit Trikot, den Geruch von Deodorant und noch warmem Schweiß hinter sich herziehend, verlieh er die Würde eines Diplomatensohnes. Der alten Frau mit Handwagen und Sommerhut die Fähigkeit eines wahrsagenden Mediums im Dienst der Bank- und Aktienwirtschaft. Eine Welt wie aus Glas breite sich vor ihm und seinen stummen Augen aus, wenn der zwar vorhandene, aber erträgliche Lärm nur nicht durch die Stimme eines Menschen zerschnitten und zertrümmert wurde. Hob eines der betrügerischen Wesen an zu sprechen, oder betrat schon mit einem Satzfaden im Mund die Bühne, dann zerrte ein gnadenloser Zorn in ihm. Dabei war der von vornherein redende, plappernde noch leichter zu ertragen als die Figuren, die ihm das Versprechen ihres Geheimnisses als Nahrung seiner Phantasie durch ein plötzliches Silbenstakkato wieder aus dem Herz rissen. Sie, die Dame, er der graue Mann – wie trivial und fleischig, wie käsig und madig fielen sie zurück, wenn der erste Satz ihre himmelsreine Erscheinung zu zersägen begann. Das Fernsehen, die Computer und natürlich die Familie und das ganze gesellige Netzwerk, das sie wie kompostierte Schlingpflanzen umgab, breiteten sie so vor ihm aus. Nein, nicht vor ihm – für ihn! So führten sie ihn vor, indem sie ihre Worte untereinander tauschten und zugleich als vergiftete Pfeile gegen ihn schossen.

Gegen Mittag stand er auf, streckte die vom sitzen verrenkten Knochen, drehte sich und begann die K-Straße herunterzulaufen. Das gehen gab ihm, zumal nach einer überstanden Wortschwall-Attacke, Sicherheit. Die Bühne war lang, die Kulisse trivial, aber echt: Türen, die Gerüche freigaben und Musik oder Geräusche von Maschinen. Fenster, die Licht ausströmten und das alles unter einem Himmel aus tintenblauem Sommer. Es war Abend geworden. Seine Wohnung lag am Ende einer Straße, in der es kaum Geschäfte mehr gab. Eine Straße, die von Wäsche, Kindern und Hunden bewohnt schien. Der Bürgersteig war sauber. Hier hielt weder ein Bus noch war die Gegend bei Nachtmenschen beliebt. Sauber und friedlich, kühl und angenehm lag die K.-Straße vor ihm, auch noch, als er sie schon verlassen hatte.