Ein Schmetterling, ein Windhauch


Der Genever war alle. Zu besonderen Anlässen gehörte er einfach dazu. Heute hatte Olf Geburtstag und es war kein Genever mehr da. Alle waren ein wenig ratlos. Als ich von der Straße draußen in die Eckkneipe hineinschaute, standen sie in dunstigem Licht, jeder eine Biertulpe in der Hand, einige auch eine Zigarette. Eine Gruppe gut eingespielter... Freunde oder eher Kollegen? Aber seltsam unbewegt standen sie da im der Kneipe herum, wie auf einen Punkt hin - zur Theke - ausgerichtet. Hinter dem Tresen hantierte Jürn schuldbewusst mit irgendwas, er drückte Gläser auf das Spülgerät und tunkte sie danach in ein mit Wasser gefülltes Spülbecken, dabei blickte er schweigend auf seine Hände. Irgendjemand raunzte „das doch Schaise“, doch die von Alkohol und Zigaretten heisere Stimme ging in der Musik unter. Viel zu laut dröhnte „Atemlos durch die Nacht“ aus dem Lautersprecher, der im Regal hinter dem Tresen stand. Bestimmt hatte Manne sich das Lied für Olf zum Geburtstag gewünscht und kurz zuvor noch ausgelassen die erste Strophe mitgegrölt, war dabei in die Knie gegangen und hatte den Hintern ausgestreckt, als würde er den Ententanz machen. Aber jetzt war kein Genever mehr da und alles hatte sich verändert. Jürn drehte die Lautstärke herunter. Manne stand steif da, sagte kein Wort, blickte zögerlich zu Jürn und fragte dann leise: „Kanns nich ne neue Flasche holen...?“ Die anderen blickten ihn an. Dann folgten ihre Blicke Jürn, der mit einem Lappen durch die Kneipe ging und anfing, die Tische zu wischen. Dabei murmelte er in sich hinein: „Genever, immer muss es der Genever sein. Nicht der Aquavit, nicht der Beerenburg, immer Genever.“ Hektisch bewegte er den Lappen über die Tische und stieß dabei einen Stuhl um. Er wurde jetzt etwas lauter, aber sah sie weiterhin nicht an. „Ich habe immer alles da, extra für euch. Kümmel, extra für euch. Metaxa, der steht hier rum und verstaubt. Wie lange kennen wir uns? Seit 25 Jahren immer Genever, dabei habe ich euch Metaxa gekauft, aber den wollt ihr nicht. Und das habt ihr jetzt davon. Es ist doch nicht meine Schuld.“ Alle schwiegen, sahen verlegen auf den Fußboden oder tranken hastig ihre Biergläser leer. Maranne musste aufstoßen und dabei kamen etwas Bier und Magensäure hochgespült, die sie mit der Hand vor dem Mund auffing. Jürn wischte noch einen Tisch. Mittlerweile lief in der kleinen Musikanlage „Angie“ von den Rolling Stones. Schweigen, leise Musik und das Klopfgeräusch einer verzweifelten Motte, die in der verstaubten Deckenlampe eingesperrt war und dort hektisch herumflatterte. Plötzlich stieß Jürn mit seinem Lappen einen schweren Glasaschenbecher weg, der lautklirrend auf den Boden aufschlug. Einige der Gäste zuckten zusammen und aus Jürn platzte laut heraus: „Verdammich!“ Er blieb stehen, schloss die Augen und atmete zwei-, dreimal durch. „Ich spendier ne Runde Kümmel.“ Eine leichte Entspannung ging durch die Kneipe. Einige der Gäste nickten, irgendjemand lallte „ey cool!“, andere begangen sich wieder zu unterhalten „haste ne Kippe“ - „aber rauche kanns allein“, staubiges lachen. Olf hob den runtergefallenen Aschenbecher auf, legte ihn auf den Tresen und klopfte Jürn, der zurück hinter den Tresen ging, auf die Schulter, dann nahm er einen großen Schluck aus der Biertulpe und hielt sich dabei am Tresen fest. Ein anderer schob unauffällig mit einem Fuß die Zigarettenstummel und Asche beiseite und rülpste danach, indem er „Schulz“ sagte. Nur Manne blickte betreten zu Boden. An diesem Abend tranken alle dort in der Eckkneipe mindestens zwei Schnäpse mehr als sonst - das Geld spielte heute Abend keine Rolle - und Manne war am Ende so betrunken, dass er es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette geschafft hatte und daher ein Teil des Erbrochenen auf der Türschwelle landete. Eine Weile hielt er noch durch, saß mit einem Bier an seinem Stammtisch und brabbelte vor sich hin, dass Jürn ihn bloß ärgern wolle, spätestens Weihnachten der Genever wieder da sei und Jürn einfach zu faul sei, die richtige Flasche vom Regal herunterzuholen. Dabei sackte er immer mehr in sich zusammen und irgendwann brachte Olf ihn schwankend nach Hause.


Etwa ein halbes Jahr später kam ich wieder vorbei an der Eckkneipe. Ich versuchte einen Blick ins Innere zu werfen, doch die Tür war geschlossen und die Fenster von innen mit Pappe verkleidet. Die Eckkneipe hatte zugemacht. Bestimmt hatte Jürn nicht mehr genug Umsatz mit seinen Gästen erwirtschaftet. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum er seinen Betrieb sonst hätte aufgegeben sollen. Aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er für sein Bierstübchen gekämpft hat, als das Geld knapp wurde, wie er versuchte, den Betrieb weiterzuführen, wie er mit dem Vermieter verhandelte und weiter verhandelte, während er bereits nach und nach die Vorräte aufbrauchte, bis schließlich das Ende unausweichlich da war. Und ich glaube, Manne, Olf, Maranne und all die anderen hatten es irgendwie schon geahnt, damals, als der Genever alle war.