Angeln-in-Zeiten


Alles, was geschieht, passiert in der Gegenwart. In jedem Augenblick. Jetzt! Seit Millionen von Jahren gibt es schon Leben auf der Erde. Die Neandertaler erblickten vor rund 100.000 Jahren die Welt, der Homo Erectus vor 1,8 Millionen Jahren und die ersten Vormenschen sogar schon vor zwei oder drei Millionen Jahren. Aber es passiert alles immer nur in der Gegenwart. Nicht vorher, nicht hinterher. In der Gegenwart. Und wann gab es die ersten Tiere? Säugetiere entwickelten sich vor etwa 200 Millionen Jahren, die Dinosaurier existierten schon vor 230 Millionen Jahren und die ersten Mikroben gar vor vier Milliarden Jahren. Und überhaupt: Die Erde selbst entstand vor 4,6 Milliarden Jahren, schätzt man. So viel Zeit... Und all die Zukunft erst - wohin führt sie uns noch? Tausende von Millionen von Jahren liegen vielleicht vor uns oder auch mehr. Jahre, in denen alle möglichen Kreaturen entstehen und sterben, neue Kulturen erwachen und zugrunde gehen, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, bis schließlich alles vorüber ist. Doch alles, was passiert, geschieht immer nur in der Gegenwart. Jetzt. Hier.

 

Gegenwart

 

Mit der Vesper düste ich durch das Berliner Stadtzentrum, vorbei am Fernsehturm und mitten durch die Autoschlangen, die vor den Ampeln standen und hupten. Der Wind wehte durch mein halbaufgeknöpftes Hemd und die Sonne spiegelte sich in meiner italienischen Sonnenbrille. Es war Sommer 2001, ich hatte Semesterferien, noch ein Jahr Uni vor mir und endlich eine vage Idee davon, was mein unnützes Studium bringen könnte. In der Umhängetasche, die ich auf dem Rücken trug, war alles, von dem man denkt, dass es ein Journalist braucht, solange man noch kein Journalist ist, sondern bloß Praktikant in einer Agentur für zeitgenössische Dokumentarfilme mit politischem Anspruch. Nichts also mit dem man jemals Geld verdienen könnte, doch alles, um als 25-jähriger Student in einer lauen Sommernacht bei einem Bier in einem Biergarten die großen Geschichten zu erzählen. Geschichten von gesellschaftlichen Bewegungen, Verbrechen der Stasi und vergessen Fluchthelfern, die der investigative Journalismus endlich ans Tageslicht befördern würde. Tagsüber freilich sah die Realität des investigativen Journalismus anders aus: Ich saß von 9:30 Uhr bis 17 Uhr an einem Schreibtisch mit drei anderen Praktikanten und eiferte fleißig um die Gunst des Agenturleiters Janus und um sinnstiftende Aufgaben jenseits von Kopieren und Kaffeekochen. Es gab insgesamt fünf feste Mitarbeiter. Doch nur Janus hatte als unbestrittener Kopf, kreativer Macher und größte Respektsperson der Agentur ein Einzelbüro und allein er hatte für uns Praktikanten wirklich Relevanz. Dabei war auch er nur gleichberechtigter Gesellschafter der Agenturgemeinschaft, wie seine vier linkischen Kollegen im Großraumbüro bei jeder Gelegenheit betonten. Doch immer, wenn neue Ideen zu Dokumentarfilmen, Drehbüchern und Fernsehbeiträgen aus ihm heraussprudelten, wenn er mit Programmleitern der großen Fernsehsender und den Filmförderern in Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen lauthals in seinem Einzelbüro telefonierte und dabei die Füße auf den Tisch legte oder wenn er von den Redaktionsräumen durch die Küche in den Schnittraum schritt, dabei mit den Büroschlüsseln in der Hand klimperte, mkit einem Bleistift in der Luft dirigierte oder sich durch seine blonden Locken strich und mit geierhafter Stimme dozierte: „Ditt müsst ihr euch mal richtich vorstellen... ditt ham die wirklich jemacht!!! Och n schönet Thema für son Film!“, dann wussten wir Praktikanten, dass wir Journalismus am Puls der Zeit erleben, und auch seine vier gleichberechtigten Mitstreiter blickten respektvoll zu ihm auf. Allein die Größe und Einrichtung der Agentur, die überschaubare Menge an Aufträgen sowie die gemächliche Arbeitsatmosphäre ließen mich hin und wieder am Erfolg seiner Ideen zweifeln, an deren politischer Sprengkraft aber nie.

 

Als ich meine Vesper vor dem Eingang zur Agentur parkte, kam mir bereits einer der Praktikanten aus der Tür entgegen und zündete sich eine Zigarette an. „Wow, das wird dieses Mal echt ein dickes Ding!“ Er nahm einen langen Zug von der Zigarette, pustete den Qualm in die Luft und lehnte sich an die Hauswand. Ich schloss in Ruhe das Lenkradschloss meiner Vespa, nahm meinen Helm ab und steckte die Sonnenbrille in die Hemdtasche. Für die spannenderen Sachen hatte Janus bislang immer mich eingespannt, da ich als einziger schon seit fast 6 Wochen Praktikant war. Ich hatte es nicht eilig, zurückzufragen. Endlich nickte ich ihm zu: „Na, was denn?“ Es platzte aus ihm heraus: „Wusstest du, da gab es früher so einen Versuch, die DDR zu stürzen. Und da hat Janus jetzt als erster ne echte Spur.“ Und fast als wäre er selbst der Agenturboss: „Das wärn riesen Ding, wenn wir die jetzt zu fassen kriegen. Das hat nicht mal das ZDF!“. „Frank!“ hörte ich es im gleichen Moment aus Janus' Einzelbüro. „Biste da? Ick hab was für dich. Ne super Sache. Musst was für mich recherchieren im Internet!“

 

Gegenwart


Mehrere Tage im Büro recherchierte ich im Internet: Namen ehemaliger Mitarbeiter einer Angelhaken-Fabrik, die ich erst in eine Excel-Liste eintrug und dann mit Yahoo suchte. Erstaunlich wie einfach das war, erschreckend wie langweilig. Teilweise stieß ich sogar auf Telefonnummern oder E-Mail-Adressen. Als ich Janus schließlich die Liste auf den Schreibtisch legte, schaute er sie fachmännisch an, blickte zu mir hoch und grinste: „Na, dann ruf se ma alle an!“ Es ging um folgendes: „Ditt war ne janz verrückte Sache so in den Jahren `80 bis `83. Da gab es sonne Gruppe von Typen – warn aber auch Frauen dabei – die ham in nem VEB abends immer Überstunden jeschoben. Naja, dit war noch in der DDR und mit den Überstunden war ditt nich so einfach, weil ufffallen wollten se ja och nich. Und weeste wat? Die ham tagsüber immer so jetan als würde se nich arbeiten, einfach so rumjestanden. Ditt fiel ja nüscht weiter uff, fehlte eh imma wat an Equipment. Aber wat globst de, wenn der Brigadeleiter mal uffn Klo war oder so, dann ham se jeschuftet wie die Ochsen und einen Blinker nachm anern herjestellt. Der Brigadeleiter dachte aber, da geht nüscht voran und dann mussten se eben die Überstunden machen. Na, ditt ham se dann och jemacht, verstehste?“ Janus zog die Augenbrauen hoch und grinste breit. Ich verstand gar nichts. „Wäre das andersherum nicht sinnvoller gewesen: Nicht arbeiten, wenn der Aufseher weg ist, und Arbeiten, wenn er aufpasst?“ – Janus zog eine verständnislose Miene. „Bist n Wessi, oder? Na Mensch, ditt is doch vollkommen klar. Die ham den Staat beschissen.“ „Wegen ein paar Angelhaken?! Und was haben sie damit gemacht?“, fragte ich. „Na, wat wees ick: sind se vielleicht mit angeln jegangen.“ Er rollte mit seinem Schreibtischstuhl ein Stück näher. „Mich interessiert vor allem das Subversive an der Story. Ditt war ja fast schon n revolutionärer Akt. Wenn wir davon jemanden vor die Kamera schaffen, kriegn wir mindestens drei Minuten Sendezeit im Nachmittagsprogramm. Dit hat alles, wat Fernsehen brauch: bisschen deutsche Geschichte, bisschen Crime und et menschelt. Also los, finde ma wat raus. Bist doch n hellet Köpfchen!“

 

Ich hatte noch eine Woche Praktikum vor mir. Bevor die Semesterferien vorbei waren, folgte noch der unvermeidliche Besuch bei meinen Eltern in Hamburg. Danach hoffte ich auf ein Angebot von Janus, eine kleine Stelle in der Agentur, bei der ich ein paar Stunden die Woche neben meinem Studium arbeiten, Geld verdienen und vor allem Berufserfahrungen sammeln konnte. Der Einstieg in den Journalismus würde schwer genug werden. Und so telefonierte ich von morgens bis abends die Liste ab, schrieb E-Mails und redete mit der Telefonauskunft. Bei Namen wie Jiri Kiriowsky oder Metta Schneiköpfler ging es relativ schnell. Viele Telefonnummern existierten nicht mehr oder die Auskunft fand einfach niemanden mit den Namen. Hin und wieder erreichte ich auch jemanden. Dann sagte mir eine überraschte Person am Telefon, dass ihre Eltern bereits gestorben seien oder sie nichts davon hören will. Auskunft gab mir auf jeden Fall niemand. Noch schwieriger waren aber Fälle wie Herman Meier, Ulrike Schmidt oder Günther Schneider, für die mir die Telefonauskunft eine Vielzahl von Nummer in ganz Deutschland gab. Dann telefonierte ich alle nacheinander ab: „Guten Tag, Frank Freitag mein Name, ich möchte gern Herrn Hermann Meier sprechen. ... es geht darum, dass wir die früheren Mitarbeiter einer Fabrik bei Leipzig suchen. ... Ich bin Praktikant und recherchiere für einen Fernsehbeitrag zur deutschen Geschichte. Herr Meier ist uns als verdienstvoller Mitarbeiter genannt worden. .... von wem? Naja, das haben wir so recherchiert.“ – aufgelegt! - „Guten Tag, Frank Freitag mein Name, ich möchte gern Frau Ulrike Schmidt sprechen. ... es geht darum, dass wir die früheren Mitarbeiter einer Fabrik bei Leipzig suchen. ... Ich bin Praktikant...“ – aufgelegt! – „Guten Tag, Frank Freitag mein Name, ich möchte gern Herrn Günther Schneider sprechen. ... es geht darum, dass wir die früheren Mitarbeiter einer Fabrik bei Leipzig suchen. ... Ich bin Praktikant und recherchiere für einen Fernsehbeitrag zur deutschen Geschichte. Herr Schneider ist uns als verdienstvoller Mitarbeiter...“ – aufgelegt! Es war ein mühsames Geschäft.

 

Nach einer Woche hatte ich viele Absagen, ein paar Treffer, bei denen die Personen aber schon verstorben waren und einzelne E-Mails geschrieben – ohne Rückantwort. Vor allem aber hatte ich eins: niemanden, der im Fernsehen etwas über das Thema sagen konnte oder wollte. Eine vage letzte Chance versprach ein gewisser Gustav Merseberg, von dem ich – neben einer unbeantworteten E-Mail – auch seinen aktuellen Wohnort hatte. Und ich konnte mit ziemlicher Sicherheit festmachen, dass er zwar keiner von den tollen Revolutionären in der Angelfabrik war, dafür aber genau zu jener Zeit einer der Vorarbeiter oder Brigademeister oder wie die auch immer hießen. Und das beste: er war mittlerweile nach Westdeutschland gezogen und wohnte in der Nähe von Hamburg, genauer: in Billstedt

 

Gegenwart

 

Verdammter Stadtplan! Einige Wochen später saß ich im Auto meiner Eltern, der Motor lief und am Ende riss ich alle relevanten Seiten aus dem Falck-Ringbuch heraus und legte sie nebeneinander auf dem Beifahrersitz, so dass der ganze Weg zu sehen war. Unter den Blättern lag das Kuvert mit dem Schreiben von Janus. Die Wegbeschreibung war allerdings schon nach der ersten Kurve durcheinander gerutscht und fiel beim Bremsen an der roten Ampel komplett auf Boden. Dann klingelte das Handy. „Mach mal schnell das Rado an, irgendeinen Sender, die bringen das alle“, schrie die Stimme meines WG-Mitbewohners in Berlin hektisch in den Hörer. „Das ist echt krass! Wir sprechen später.“ Der Anruf war beendet. Ich fuhr noch ein Stück bis zur nächsten roten Ampel, sammelte die Seiten vom Fußraum auf und legte sie wieder auf den Beifahrersitz, das Handy zum Beschweren oben drauf. So konnte ich zwar nur halbwegs den Weg nachvollziehen, aber wenigstens fielen die Blätter nicht mehr herunter. Das Kuvert steckte ich in die Innentasche meiner Jacke. Zeitdruck hatte ich zwar nicht, aber ich war aufgeregt, was Merseberg wohl erzählen würde. Dann schaltete ich das Radio ein: „...wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was der genaue Hintergrund ist. Aber unsere Korrespondenten in den USA sind in ständigem Austausch mit uns. Wir fassen noch einmal für alle neuen Zuhörer zusammen“, die Stimme der Moderatoren zitterte, „allem Anschein nach gab es heute einen Anschlag in New York und...“ Pause. Hektisches Atmen des Moderators und einer zweiten Moderatorin, „oh Gott. Wir erfahren gerade, dass sich ein zweites Flugzeug...“ ich drückte den Suchlauf. „...steht in Flammen. Möglicherweise eine Terrorvereinigung. Das ist aber noch nicht abschließend...“ Suchlauf. „schon jetzt von vielen Toten und Verletzten ausgehen. Die genaue Zahl können wir zu diesem Zeitpunkt nicht...“ Ich schaltete das Radio aus. Das Gefühl der Aufregung hatte sich verstärkt und mir war schwindelig. Was war denn hier eigentlich los? Ich versuchte, mich zu beruhigen. Einen kühlen Kopf behalten. Ich musste mich voll jetzt auf das konzentrieren, was für einen echten Journalisten am wichtigsten wäre: die Sache mit den Angelhaken! Gleichwohl, ich hatte ein unangenehm dumpfes Gefühl im Magen, ein seltsames ziehen, so als würde sich Zeit und Raum umkehren. Dass dieser Tag eine Zäsur bedeutete, wusste ich wohl, nur noch nicht, welche.  

 

Ich parke ein paar Straßen entfernt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wenn ich die letzten Meter zu Fuß gehe, falle ich nicht so mit der Tür ins Haus. Außerdem wollte ich mir noch einmal die Worte zurechtlegen, die ich sagen würde. Schließlich entschied ich mich für folgende Variante: „Guten Tag Herr Merseberg. Frank Freitag mein Name. Es geht darum, dass wir die früheren Mitarbeiter einer Fabrik bei Leipzig suchen. Ich bin nämlich freier Journalist und recherchiere für einen Fernsehbeitrag zur deutschen Geschichte. Sie sind uns als verdienstvoller Mitarbeiter genannt worden. Das haben wir recherchiert.“ Gleichzeitig wollte ich ihm dabei das Schreiben von Janus hinhalten: Sehr geehrter Herr Merseberg, Frank Freitag ist freier Journalist und von der Agentur DokumentaPrimaVista GmbH beauftragt, Recherchen für einen Dokumentarfilm durchzuführen. Wir befürworten jegliche Unterstützung und stehen offiziell für Rückfragen zur Verfügung. Unterschrift, Datum, Firmenstempel. – „Freier Journalist“, das ging herunter wie Öl. Ich war meinem Ziel schon so nah!

 

Als ich durch die Toreinfahrt ging, hörte ich heiseres Hundebellen und das metallische klirren von Ketten. Das pastellfarbene Mietshaus hatte einen gräulichen-schmutzigen Farbton, vereinzelt waren die Fenster mit Gardinen verhängt, teilweise auch mit Pappkartons zugeklebt, die meisten Fenster aber waren einfach dunkel und die Wohnungen sahen leer aus. Um zum Eingang zu kommen, musste ich über einen kleinen mit Kopfstein gepflasterten Innenhof gehen, der als Parkplatz genutzt wurde. Aber außer einigen verrosteten Schrottautos war der Hof leer. Gegenüber dem Haus war ein Bereich mit Maschendraht abgetrennt, ein Zwinger für einen angeketteten Schäferhund, dessen Halsband das wütende Bellen abschnürte, während der Hund sich auf die Hinterbeine stellte, die Vorderbeine in der Luft, und versuchte, zu mir zu gelangen. Ich ging zur Tür und sah mir das Klingelschild an. Und da stand sein Name: „Merseberg“.

 

Kurz wiederholte ich in Gedanken noch einmal den Satz, den ich mir zurechtgelegt hatte, hob meinen zitternden Zeigefinger zum Klingelknopf, atmete tief durch – und ging noch mal eine Runde auf dem Parkplatz. „Du bist freier Journalist und hast das Recht, Fragen zu stellen, Artikel 5, Grundgesetz“, redete ich mir Mut zu, derweil dem Schäferhund weißer Speichel aus dem heiser kläffenden Maul lief. Seine Hinterbeine scharrten im matschigen Boden und dreckiger Sand spritze durch die Luft. Der Zwinger war vollgestellt mit verrosteten Metallschrott und irgendwelchen alten Gegenständen. Wer auch immer den Zwinger besaß, es war ein Messie, soviel stand für mich fest. Wovor hast du Angst?, fragte ich mich. Im schlimmsten Fall sagt er das, was auch alle anderen am Telefon gesagt haben: „Ich will mit Ihrer Angelhaken-Fabrik nichts zu tun haben!“ – deine Karriere als Journalist ist dann zwar im Eimer, aber das ist doch nicht gefährlich. „Im Angeleimer“, murmelte ich unwillkürlich und musste grinsen. Während ich weiter das Für und Wider der Situation bedachte, drehte ich mich zu dem Hund um und für einen kurzen Moment sah ich etwas. Es war keine bewusste Wahrnehmung. Eher eine Art Intuition im Randbereich des Bewusstseins. Direkt am Zaun lag eine kleine türkise Metallbox, die wohl durch das Scharren der Hundebeine weggeschleudert war. Die Box war nicht sehr groß, etwas größer als ein Stück Butter vielleicht. Aber aus irgendeinem Grund passte sie nicht hierher, passte nicht zu den verrosteten Bettgestellen, verbogenen Fahrrädern, angelaufenen Kloschüsseln und was sonst noch im Zwinger herumlag. Langsam ging ich zum Zaun auf den Hund zu, Schritt für Schritt. Mein Atem raste und mein Herz pochte wie nach einem Kurzstreckenlauf. Doch mit jedem Schritt wurde ich ruhiger, je näher ich dem Hund kam, und auch die Bewegungen des Hundes verloren ihre Aggressivität. Schritt für Schritt. Ich sah ihm direkt in die Augen, in seine dunkle Iris, sah die Augenlieder, die mit jedem Wimperschlag zuzuschnappen schienen, ich spürte wie sein Atem gleichmäßiger wurde und sah den matschigen Speichel, der immer noch an seinen Lefzen herabtropfte. Schließlich standen wir uns gegenüber, keine 30 Zentimeter voneinander entfernt, ich kniete mich auf dem Parkplatzboden, Auge in Auge mit dem Hund, und spürte und roch seinen muffigen Atem; nur der Maschendrahtzaun trennte uns noch. So verharrten wir, ich weiß nicht wie lange. Der Zaun war an steinernen Pfählen befestigt, die ungefähr zwei Meter voneinander entfernt standen, am sandigen Boden lag der Maschendrahtzaun aber nur auf. Der Hund und ich sahen uns an, atmeten im gleichen Rhythmus. Keine Bewegung. Keine Angst. So ging es vielleicht eine halbe Minute, dann riss ich mit der linken Hand ruckartig den Maschendrahtzaun ein Stück hoch, gerade genug, um mit der anderen Hand den Kasten zu greifen. Im selben Moment ertönte ein Mark durchdringendes Bellen des Hundes, heiser und voller Wut, als wäre es der letzte Laut seines gequälten Lebens, und gleichzeitig erklang ein lautes Knallen wie der Schlag zweier Metallstangen aneinander. Die Kette vom Hals des Hundes war gerissen, die Wucht seiner Hinterbeine schleuderte ihn nach vorne gegen den Maschendrahtzaun. Ein schmerzhaftes Winseln folgte, dann Stille, und ich rannte wie noch nie in meinem Leben, voller Panik, und alles, was ich an enttäuschter Erwartung, unerfüllter Hoffnung und Frust in mich hineingefressen hatte, platzte jetzt wie ein lautloser Schrei aus mir heraus.

 

Gegenwart

 

Zurück in der Agentur spürte ich eine seltsame Betriebsamkeit, die ich von früher nicht kannte. Zwei neue Praktikantinnen saßen im Büro, eine davon auf meinem Platz. „Ah, Frank. Da bist de ja wieda. Komm ma gleich in mein Büro“, hörte ich Janus hinter mir. Er griff mir an die Schulter und zog mich mit sich. „Mensch, ditt sind ja Zeiten, in denen wir leben...und wie war et in Hamburg. Hast wat rausjefunden?“, er sah an meinem Gesichtsausdruck, dass dem nicht so war.  „Macht nix. Passt eh nich so ins Sendekonzept, hamse jesacht. Da fehlt dit dramatische Element – niemand tot, keiner im Knast und so weiter. Außerdem sind die Fabrikarbeiter imma son bisschen unhygienische Typen. Ditt will nachmittags keiner im Fernsehen haben – quasi inner juten Stube, verstehste?“ Janus grinste und ich erzählte. Mitten im Satz und seinem Büro blieb er stehen. „Hörma, du bist doch jetzt durch mit dein Praktikum, oda? Wir ham da nämlich sonne neue, Sabine heisst se. Kommt aus m Ruhrpott und hat vorher Praktikum am Theater jemacht – richtich jute Kontakte! Dieser ganze Kulturbereich, ich sach dir, da jibt et noch massich Themen für uns.“ Ich schaute ihn fragend an und sagte vorsichtig: „Na, ich dachte, ich könnte vielleicht weiter die politischen Themen machen. Das würde dann doch gut passend, oder?“ „Na, ick frach ja nur, weil der Platz hier in der Agentur isn bisschen... naja, weest ja. Die sitzt jetze uff dein Platz un soll hier auch längafristig n bisschen mehr eingebunden wern, so uff 20 Stunden Basis. Neuet Modell: Hälfte zahlen wir, Hälfte dit Amt.“ Janus sah meine Enttäuschung. „Hey, wenne ma ne Idee fürn Film hast, kannze jederzeit rumkommen, versprochen. Dann quatschen wir dit ma durch.“ Er dreht sich langsam wieder zur Bürotür hin. „Guck ma, die kommt hier schon an mit ner supa Idee: Von wegen ‚Lebensversicherung für alle‘ und so. Ja, Pustekuchen! Da is sonne olle Ommi und will sich auf ihre alten Tage noch versichern für die Enkel und nischt is. Zu alt. Dit musst du mir mal vorstellen. Und jetze brauchen wir fürs Fernsehen nur noch sonne Omma finden. Und die sucht Sabine uns. Dit is Journalismus, imma schon ne Idee parat.“ Mit diesen Worten schob er mich sanft aus seinem Einzelbüro und schloss die Tür. Ich ging enttäuscht durch das Großraumbüro in Richtung Ausgang und schämte mich. Einige der alten Praktikanten nickten mir zu, während sie so taten, als wären sie schwer beschäftigt. Wahrscheinlich wussten es sie es schon. An meinem alten Platz saß die neue Praktikantin mit dem Rücken zum Schreibtisch. Vor ihr standen Janus' vier Kollegen und hingen ihr an den Lippen: „Also, wenn wir das dann mit AAARTE machen, dann können wir auch mal den Christoph oder den Einar miteinbinden. Für die anspruchsvollen Sachen sind die ja immer zu haben...“ Traurig verließ ich die Agentur. 


Vergangenheit


Heute bin ich den ersten Tag nach dem Sommerurlaub mit meiner Frau und den Kindern wieder zurück in meinem Büro des Redaktionshochhauses des P.­-Anzeigers und es gruselt es mich. Ein schreiender Ressortleiter, die Hektik der Kollegen und dazu 197 ungelesene berufliche und private E-Mails, die ich alle durcharbeiten muss. Darunter mindestens 50 Mails mit Spam wie „Jetzt zugreifen: günstige LED-Lampen“ oder „Edles Laminat im Landhaus-Look“, aber auch viele Rückmeldungen wie „Sehr geehrter Herr Freitag, vielen Dank für Ihre Interview-Anfrage...“, und dazu Nachrichten und Pressmeldungen von allen möglichen Absendern sowie Grüße von meinen Eltern auf meinem privaten E-Mail-Account und dass ich sie mal wieder besuchen kommen soll und eine Anfrage von der Sparkasse, dass ich meinen Dispo erhöhen solle, sowie eine Nachricht, die ich fast übersehe:


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Sehr geehrter Herr Journalist Freitag,


es ist schon einige Zeit her und bitte entschuldigen Sie, dass ich mich nicht früher bei Ihnen gemeldet habe bzgl. Angelfabrik Sächsisch-Oberdorf. Ich würde Ihnen gern meine Sicht der Dinge darstellen, denn mir wurde vor längerer Zeit etwas wichtiges entwendet und ich werde erpresst. Bitte nehmen Sie Kontakt mit mir auf!


Mit freundlichen Grüßen

Franz-Gustav Merseberg

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Einen kurzen Moment lang halte ich inne und denke an die vergangene Zeit, wie alles - zufällig oder nicht - miteinander zusammenhängt und in welche Richtungen sich die Dinge entwickeln. Dann klicke ich auf „LÖSCHEN“.